Klettersteige: Mit Drahtseilen und Tritten aus Stahl werden Felswände gangbar gemacht. Im ersten Weltkrieg dienten die Vie Ferrate als Nachschubwege der Gebirgstruppen. In den sechziger Jahren entdeckte sie der Tourismus. Damals gab es ein paar Dutzend Klettersteige, heute sind es im ganzen Alpenraum weit mehr als tausend. Österreich hat bereits 594 solcher Anlagen, Italien zählt 496, die Schweiz 165.
Alpen als Disneyland?
Es greift um sich wie eine Epidemie. Jeder Tourismus-Ort sorgt dafür, dass er Klettersteige, begehbare Schluchten und andere Attraktionen anzubieten hat, denn das bringt – so rechnet man – mehr Gäste ins Tal. Alpenschutz-Organisationen wie Mountain Wilderness warnen: Wenn es in diesem Tempo weitergeht, werden die Alpen rasch zum begehbaren Disneyland umgebaut .
Der Verbauungswahn macht vor nichts halt. Sogar ausgesetzte Bergwanderwege werden mit Ketten, Drahtseilen und Metallstufen verbaut. Hängebrücken werden angelegt, wo keine nötig sind. Sommerrodelbahnen werden in die Hänge geklotzt. Aussichtsplattformen werden an die Gipfel gebaut. Jede Tourismus-Gemeinde glaubt, sie müsse, ein Grand-Canyon-Spektakel offerieren, damit auch in einer schlechten Saison die Kasse stimmt.
Versprochene Nervenkicks
Ein Beispiel ist der Gemmiwand-Klettersteig im Wallis: „top of Leukerbad“ wie es im Net heisst. Der Weg durch die Wand weise eine Reihe von Höhepunkten und Nervenkicks auf, wie man sie sonst nirgendwo finde: Slackline Park, Stairway to heaven, Trapez, Spiderman, Easy Bridge, Leanout und einiges mehr.
Einen weiteren Nervenkick offeriert Leukerbad mit dem Klettersteig durch die „atemberaubende Daubenhornwand“. Mit Hunderten von Metern Drahtseil und Leitern sei dies der grösste Klettersteig der Schweiz. „Ein MUST für alle Kletterfreunde“, heisst es im Werbetext.
Klettern ist nicht Treppensteigen
Doch die Begeisterung der anvisierten „Kletterfreunde“ hält sich in Grenzen. Die Zeiten, in denen Felswände mit Hilfe von Leitern bestiegen wurden, liegen wohl weit mehr als ein Jahrhundert zurück. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich eine alpinistische Ethik herausgebildet, die – grob gesagt – auf dem Grundsatz beruhte, dass Bergsteigen und Treppensteigen zwei prinzipiell verschiedene Betätigungen sind.
Im Jahr 1910 schrieb Rudolf Fehrmann, ein Spitzenkletterer seiner Zeit, einige Sätze, die sich als prophetisch erweisen sollten:
„Wer die Verhältnisse in unserem Sportbetrieb kennt, muss zu einer grundsätzlichen Verurteilung aller künstlichen Hilfsmittel kommen. Würden jetzt diese Erleichterungen freigegeben, so würde bald jeder die ihm mangelnde Klettergewandheit durch Schlagen von riesigen Griffen und Tritten, durch Anbringen ganzer Steiganlagen von Mauerhaken( …) zu ersetzen suchen. In einem Sommer würden Dutzende neuer Wege, die nur so von Eisen starren, durchgeführt werden. Aber dem ernsten Bergsteiger, der die Natur und insbesondere die Felsen rein und unverdorben haben will, wäre die Freude am Klettern in unserem Gebirge für immer genommen.“
Sauberes Klettern als Vorbild
Rudolf Fehrmann kam aus dem Elbsandsteingebirge, wo bis auf den heutigen Tag strengste Kletterregeln herrschen. Sicherungsringe dürfen nur beschränkt an wenigen Standplätzen montiert werden, ansonsten ist das Einschlagen oder Einbohren von Felshaken aus Metall untersagt. Gesichert wird mit Knotenschlingen, die in Risse gelegt und wieder entfernt werden.
Damit wird bezweckt, dass der Sandstein der Felstürme unbeschädigt bleibt. Eine Technik, die in ihrer Ethik mit dem Stil vergleichbar ist, den wir heute als Clean Climbing bezeichnen. Dabei gilt der Grundsatz, dass der Kletterer mit mobilem Sicherungsgerät arbeitet und den Fels nach der Tour so verlässt, wie er ihn vorgefunden hat, - ohne Beschädigungen irgendwelcher Art.
Reinhold Messner fordert Verzicht
Rudolf Fehrmann gehörte neben Paul Preuss zu den ersten Alpinisten, die sich radikal und geradezu fundamentalistisch gegen künstliche Hilfsmittel und Verbauungen wandten, mit denen die Berge gangbar gemacht werden.
Der Südtiroler Extrembergsteiger Reinhold Messner zitiert Fehrmann und Preuss in seinem Buch „Vertical. 100 Jahre Kletterkunst“. Messner selbst führt seit den siebziger Jahren einen erbitterten Kampf gegen die Verbaung und Verdrahtung der Berge. Damit bezog er unter anderem Position gegen die technische Kletterei der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg. Felswände wurden damals in Direttissma durchstiegen, indem man kurze Aluminium-Trittleitern an Bohrhaken hängte. Die heutigen Auswüchse im Klettersteig-Bau kommen einem vor wie eine Renaissance jener Epoche, in der Extrembergsteigen Bauarbeiten am Berg bedeutete.
Null-Risiko-Ansprüche
Was wird vom Alpinismus übrig bleiben, wenn alles verdrahtet, zubetoniert und gangbar gemacht ist? fragt Messner. Er ist gnadenlos in seiner Kritik: „Hohe Erwartungen bei geringer Eigenverantwortung heisst der Schlüssel zum Traum der Fit-for-fun-Bewegung. Auch beim Klettern. Der Fels wird mehr und mehr zum Konsumgut. Der Anspruch auf Erlebnis und risikofreie Machbarkeit führt zu jener Absicherungs-Hysterie, an deren Ende Felspisten stehen. Wir nähern uns dem Skibetrieb.“
Polemische Worte, aber sie sind von zwingender Logik. Messner fordert – wie viele andere Alpinisten – den Verzicht auf immer mehr Gehhilfen und Null-Risiko-Anspruch. Unsere Fähigkeit, uns eigenverantwortlich in der Natur zurecht zu finden, müsse gefordert bleiben.
Klettern heisst: seinen Weg suchen
Klettern heisst sich selbst erfahren, seinen Weg suchen, seine Grenzen ausloten. Es heisst seine Ängste kennen lernen und das Management dieser Ängste erproben. Mit dem Einklinken eines Karabiners in ein Drahtseil ist es vorbei mit all dem. Da ist kein Weg mehr zu suchen, sondern der eiserne Weg ist vorgegeben, - inklusive Sicherheitsgarantie. Es ist fast wie das Laufen des Hamsters in der Tretmühle.
Einen Berg oder eine Felswand muss man erkunden, man muss entdecken, wo es durchgeht. Das ist auch dort oft noch eine Herausforderung, wo die Route mit Bohrhaken bereits gesichert ist, was bei den meisten der alpinen Routen der Fall ist. Man kann sich irren und muss umkehren.. Man kann seine Kraft überschätzen und muss wieder absteigen oder abseilen. Dazu braucht es Zeit, viel Zeit und eine Rückkehr zur Langsamkeit. Es ist genau diese Entschleunigung, diese Bereitschaft zur Hingabe an das spielerische Suchen und Entdecken, die das Bergerlebnis ausmacht. Das Klettern ist ein Sport, der Jahre des handwerklichen Lernens und der Übung verlangt.
Fatales Konsumdenken am Fels
Und genau das ist es, was die Outdoor-Fun-Gesellschaft nicht ertragen kann. Bloss keine „Zeit verlieren“. Es muss alles schnell und konsumfertig im Angebot sein. Man will „the real thing“ hier und jetzt. Man kauft das ganze Package mit Parkplatz, Seilbahn, Klettersteig, Bergrestaurant, Pizza, Bier und Kafi fertig. Die logische Folge dieses Konsumdenkens ist, dass selbst Menschen, die völlig ungeübt sind, auf Klettersteigen Felswände durchsteigen wollen. So kommt es immer wieder zu Unfällen. Häufigster Befund der Rettungsequipen ist die sogenannte Blockierung: was nichts anderes bedeutet, als dass eine Person so erschöpft ist, dass sie nicht mehr weiterkommt. (vgl. die Unfall-Statistik in der Broschüre „Gipfel der Verdrahtung“ herausgegeben von Mountain Wilderness)
Der Klettersteig-Fan will vor allem die Sicherheitsgarantie. Denn wer den Gang entlang dem Eisengeländer wählt, der hat keine Zeit, selber etwas auszuprobieren, selber Kletterversuche zu wagen und sich selber um seine Sicherheit zu kümmern. Man will vermeiden, mit dem Berg und seinen Anforderungen allein gelassen zu werden. Andere sollen die Verantwortung übernehmen.
Doch dieses Denken erweist sich am Ende als eine fatale Ideologie. Denn wie soll ein Mensch lernen, mit schwierigen Situationen fertig zu werden, wenn er sich der Möglichkeit entledigt, sie zu erleben? Wie sollen wir lernen, unsere Ängste zu überwinden und Krisen zu managen, wenn wir uns nicht einmal mehr erlauben, an einem Fels spielerisch das Klettern zu erlernen? Unsere Kräfte zu proben in einer Natur, die keine Versicherung anbietet?
Die Natur ist zur Kulisse verkommen
Selbst eingefleischten Klettersteig-Fans wird es langsam zu viel. Einer von ihnen ist Eugen Hüsler, bekannt als Klettersteig-Papst. Der Mann hat ein halbes Jahrhundert lang Klettersteige begangen und Bücher darüber geschrieben. Jetzt stellt er im Vorwort zu der Broschüre von Mountain Wilderness ernüchternd fest:
„Weit über tausend Routen sind es mittlerweile alpenweit. Im Mittelpunkt stand bei den Neuanlagen immer weniger der Berg, zunehmend wichtiger wurde das Spektakel…Seilbrücken, Stahlgitter, Drehleitern – Hochseilgärten im Steilfels. Bergsteigen adé…..Nervenkitzel über dem Abgrund.“ Der Trend sei eindeutig, die Natur sei zur Kulisse verkommen, sagt Hüsler: „Da könnte man diese Eisenparcours ja gleich in die Städte bauen, Hochhäuser stehen in Frankfurt oder Berlin genug.“
Damit sind wir wieder angelangt im Jahre 1910, als die Diskussion um künstliche Hilfsmittel am Berg ihren Anfang nahm. Der Top-Kletterer Paul Preuss stellte damals lakonisch fest: „Wenn man an steilen Wänden nur mit absoluter Sicherheit turnen will, dann soll man doch lieber zuhause bleiben und seine Geschicklichkeit im Turnverein erproben.“
Die Klettersteig-Charta
2005 wurde auf Initiative des SAC auf einem nationalen Klettersteig-Forum in Engelberg ein Verhaltenskodex erarbeitet. Getragen wird die 2007 publizierte Klettersteig-Charta von verschiedenen Organisationen aus Tourismus, Bergsport, Naturschutz sowie dem Bundesamt für Umwelt. Darin heisst es, Klettersteige seien eine wichtige Ergänzung im touristischen Angebot der Berggebiete, andererseits seien sie „Eingriffe in die Natur und Landschaft. Die Errichtung von neuen Klettersteigen soll sich deshalb innerhalb von gewissen Grenzen bewegen (…) Um eine nachhaltige Entwicklung gewährleisten zu können, wird eine maximale Anzahl von 100 Klettersteigen als sinnvoll erachtet.“
Lobenswerte Vorsätze. Doch bis heute existiert keine verantwortliche Stelle in der Schweiz, welche die Erstellung und Gesamtzahl von Klettersteigen im Auge behält. Der deutschen Internetseite klettersteig.de ist zu entnehmen, dass es in der Schweiz schon 165 gebe. Dabei werden allerdings kurze Verbauungs-Strecken und kleine Funpark-Anlagen eingerechnet.
Schwingt das Pendel wieder einmal zurück?
Benedikt Weibel, ehemaliger SBB-Chef und Bergführer, schrieb vor ein paar Jahren, er beobachte mit Unwohlsein eine Rückkehr zum technischen Zeitalter des Kletterns auf hoher Komfortstufe: „Felswände werden mit Drahtseilen und Leitern für den modernen Outdoor-Konsumenten begehbar gemacht (…) Und nun überwuchern Klettersteige unsere Felsen, manchmal sogar bessere Geröllhalden, wenn ich höre, dass man selbst auf den Gantrisch einen Klettersteig bauen will. Und darum herum entwickeln sich Klettersteigführer, mit Klettersteig-Schwierigkeitsgraden, Klettersteig-Anseilmaterial, Klettersteighelme, Klettersteigschuhe, Klettersteighandschuhe… Reinhold Messner schweigt –und ich frage mich, ob das Pendel jemals wieder zurückschwingt.“