Kurz vor Abschluss seiner Intendantenzeit in Zürich beschert Andreas Homoki dem Publikum noch einmal ein legendäres Werk aus dem italienischen Barock, dessen Erfolg schicksalhaft mit dem Zürcher Opernhaus verbunden ist: die erste Oper der Musikgeschichte.
Die Gonzaga-Fanfare – gleich zu Beginn der Ouvertüre – elektrisiert. Sofort steckt man mittendrin in Claudio Monteverdis «Orfeo» … es gibt kein Entrinnen.
So war das kürzlich an der Premiere von «Orfeo» am Zürcher Opernhaus.
Und so war es am 20. Dezember 1975, als mit «Orfeo» und dem anschliessenden Monteverdi-Zyklus in Zürich Operngeschichte geschrieben wurde.
Gefeiert wurde die Wiederentdeckung eines Werkes, das 1607 in Mantua am Hofe des grossen Renaissance-Fürsten Vincenzo Gonzaga pompös uraufgeführt worden war: «Orfeo», die erste Oper der Musikgeschichte. Zwar hatte man zuvor schon in Florenz ein bisschen experimentiert, aber erst Monteverdi brachte ein Theaterstück mit Musik und Gesang auf die Bühne. Ganz weltlich, kein Oratorium für die Kirche. Ein Meilenstein!
Dennoch geriet Monteverdi über die Jahrhunderte wieder in Vergessenheit. Das Genre Oper hingegen, an dessen Beginn «Orfeo» stand, hat seinen Siegeszug seither auf den Bühnen der Welt dank unzähliger weiterer Werke unaufhaltsam fortgesetzt.
Wie ein Blitzschlag
Dann, Mitte der 1950er Jahre, machte ausgerechnet Paul Hindemith den Versuch, Monteverdi wieder aufzuführen, ein Komponist, der das Publikum zu jener Zeit mit seinen neuartigen Klängen brüskierte und als Bürgerschreck verschrien war. Hindemith dirigierte damals die Wiener Symphoniker und suchte alte Instrumente für sein Monteverdi-Vorhaben. Da traf er auf Nikolaus Harnoncourt, der damals noch Cellist bei den Symphonikern war und bereits eine kleine Sammlung alter Instrumente besass. «Dann kam die erste Probe», erinnert sich Harnoncourt später, «und es war wie ein Blitzschlag. Das war eine Musik, die ist mir unter die Haut gegangen. Nicht nur das Werk, sondern Monteverdi überhaupt. Ein einmaliges Erlebnis.»
Einmalig sollte das Erlebnis allerdings nicht bleiben. Harnoncourt war «angefressen», Monteverdi liess ihn von da an nicht mehr los. Im holländischen Scheveningen gab es 1973 ein paar Monteverdi-Konzerte, in Amsterdam sogar einen schüchternen Versuch mit «Orfeo», und Harnoncourt war mit grösstem Enthusiasmus an allen beteiligt. Der Zufall wollte es, dass Helmut Drese, damals Direktor des Zürcher Opernhauses, ebenfalls in Holland war. Man kam in Kontakt und Drese schlug Harnoncourt schliesslich eine Aufführung in Zürich vor, unter der Regie von Jean-Pierre Ponnelle. Gesagt, getan. Am 20. Dezember 1975 war es schliesslich soweit. Die Gonzaga-Fanfaren erklangen und auf der Bühne des Zürcher Opernhauses entfaltete sich eine barocke Pracht in Bild und Ton: üppige Kostüme, dazu ungewohnte und gleichzeitig betörende Klänge auf Original-Instrumenten unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt.
Es war eine Sternstunde im Zürcher Opernhaus. Und Claudio Monteverdi war von da an nicht mehr aus dem allgemeinen Musik-Repertoire wegzudenken.
«Il divino Claudio»
«Der Jubel schien grenzenlos, die Presse machte Saltos der Begeisterung. Monteverdi hatte sie überzeugt», schreibt Drese in seinen Erinnerungen. «Il ‘divino Claudio’ war wieder unter uns, der grosse Humanist in der Musik, vergleichbar in der Literatur nur mit Shakespeare oder Calderon», so Helmut Drese. Harnoncourt, Ponnelle und Monteverdi, dieses Trio war geradezu schicksalhaft. Selbstverständlich wurden anschliessend auch «Il ritorno d’Ulisse in patria» aufgeführt und «L’incoronazione di Poppea». Zürich hatte definitiv Operngeschichte geschrieben. Geradezu prophetisch hat Harnoncourt damals auch aus den Musikern des Opernhaus-Orchesters eine kleinere Formation zusammengestellt, die als Monteverdi-Ensemble Furore machte und seit 1998 unter dem Namen «la Scintilla» auf Originalinstrumenten als Spitzenorchester für alte Musik brilliert. Nicht nur mit Monteverdi.
Und nun erklingen die Gonzaga-Fanfaren wieder im Opernhaus. Fast fünfzig Jahre nach der ersten Premiere steht «Orfeo» nun zum zweiten Mal auf dem Spielplan des Zürcher Opernhauses. Es scheint fast, als hätte man sich nicht getraut, dieser legendären, geschichtsträchtigen Aufführung von damals in Zürich eine neue Inszenierung gegenüberzustellen.
Magie ohne barocken Pomp
Intendant Andreas Homoki hat es jetzt in seiner letzten Spielzeit gewagt. Und ausser der Musik ist alles anders. Keine barocke Üppigkeit, dafür dunkle Leere. Die Unterwelt lässt sich schon erahnen und das Unheil, dem Orfeo nicht entrinnen kann, ebenfalls. Kein barocker Pomp kann über das Elend hinwegtäuschen.
Aber die Magie auch dieses Abends liegt in der Musik, die Orfeos Weg in die Unterwelt so betörend begleitet. Einer Musik, die sinnlich und einfühlsam von Orfeos Liebe zu Euridice erzählt und von der grenzenlosen Trauer, die Orfeo nach Euridices Tod befällt. Die Musik untermalt aber mir rauen Klängen auch Orfeos Trotz und Widerstand: Orfeo macht sich auf ins Totenreich, um Euridice zurückzuholen. Pluto, der Herrscher über die Unterwelt, lässt sich erweichen. Orfeo könne Euridice ins Leben zurückführen, sofern er sich auf dem Weg keinesfalls nach ihr umdrehe … Riesenfreude bei Orfeo, aber dann doch Zweifel: Folgt ihm Euridice? Wird er sie wirklich wieder ins Leben zurückholen? Ein kurzer Blick zurück – und schon hat Orfeo alles verwirkt. Jetzt hat er Euridice endgültig verloren. Trost findet er erst im Gedanken, Euridices Ebenbild im Himmel wieder zu sehen, wie es ihm sein Vater Apollo prophezeit.
Die Hölle im Innern des Menschen
Der aus Kasachstan gebürtige Regisseur Evengy Titov hat die Geschichte nun an Stelle von Jean-Pierre Ponnnelle in Zürich auf die Bühne gebracht. Titov sieht die Hölle weniger in der Unterwelt als im Innern des Menschen selbst. «Das ist der schrecklichste Ort an den man kommen kann. Jeder trägt seine Hölle in sich und mit sich durchs Leben. Der Mensch ist sich selbst der grösste Feind. Darum geht es in dieser Oper», so Titov.
Dass zu dieser Sichtweise keine opulenten Bilder und Kostüme passen, versteht sich fast von selbst, auch wenn das vielleicht der Eine oder die Andere im Publikum gern hätte. Aber sogar damals, vor fünfzig Jahren, in der Ponnelle-Inszenierung, wollte Bühnenbildner Pet Halmen das Monteverdi-Ensemble schon in Jeans auftreten lassen. Ponnelle und Harnoncourt waren allerdings nicht so überzeugt von der Idee, so ist es stattdessen zur barocken Pracht auf der Bühne gekommen.
Die schönste Oper überhaupt
Statt Nikolaus Harnoncourt, dessen unermüdlichem Einsatz die Wiederentdeckung Monteverdis letztlich zu verdanken ist, steht nun Ottavio Dantone vor dem Orchestra «La Scintilla», auch er ein Spezialist für alte Musik. Er sagt: «’Orfeo’ ist für mich die schönste und berührendste Oper überhaupt», und das Publikum im Opernhaus dürfte seine Meinung durchaus teilen. Zumal mit dem polnischen Tenor Krystian Adam ein Orfeo auf der Bühne steht, der in dieser Rolle aufgeht und sie auch schon unter Sir John Eliot Gardiner gesungen hat, ebenfalls einem Spezialisten und Vorkämpfer für Monteverdi und alte Musik.
«Der Jubel schien grenzenlos», das hatte Helmut Drese über die Reaktion beim ersten «Orfeo» geschrieben. Und so war es auch jetzt in der Premiere im Opernhaus Zürich, fünfzig Jahre danach … «Orfeo» betört nach mehr als 400 Jahren immer noch.
Der Jubel schien grenzenlos. Auch diesmal wieder.
Claudio Monteverdi «Orfeo»
Opernhaus Zürich
www.opernhaus.ch