Im Frühjahr 2003 schickte der damalige US-Präsident George W. Bush amerikanische Truppen in den Irak, die dem Land einen Regimewechsel und eine demokratische Ordnung bescheren sollten. Knapp zwölf Jahre später wütet in Teilen des angeblich befreiten Irak das Hinrichtungsschwert einer scheinbar aus dem Nichts gekommenen Terrorgruppe namens „Islamischer Staat“ (IS). Im Februar dieses Jahres verbrannten die Mörder des IS den jordanischen Piloten Moaz al-Kassasbeh. Daraufhin liess Jordanien zwei seit Jahren zum Tode verurteilte Dschihadisten aufhängen. Der neue Krieg im Nahen Osten wird mit archaischen Methoden geführt – mit Schwert, Feuer und mit dem Galgen.
Nur wenige Tage vor der Ermordung des jordanischen Piloten waren Staatsfrauen und -männer aus aller Welt nach Paris gereist, um der Opfer des Attentats auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und der Toten des Anschlags auf einen jüdischen Supermarkt zu gedenken. Kurz darauf trafen sich Abgesandte derselben Länder in Riad, um Saudi-Arabien zum Ableben von König Abdullah zu kondolieren. Der enge zeitliche Zusammenhang der Morde von Paris, des Mordes am jordanischen Piloten, des Todes des saudischen Königs sowie der Reisen hochrangiger Politikerdelegationen nach Paris und Riad ist zwar zufällig, der politische Kontext ist jedoch evident. Viele Fäden der nahöstlichen Krisen laufen nämlich in Saudi-Arabien zusammen.
Amerikanisches Grossaufgebot in Riad
Diese nur auf den ersten Blick überraschende Tatsache belegt die Reise einer amerikanischen Delegation nach Riad, die „hochrangig“ zu nennen eine Untertreibung darstellen würde. Präsident Barack Obama, der vom Ableben Abdullahs auf einer Visite in Indien erfahren hatte, leitete seinen Tross flugs nach Riad um – nicht aber ohne vorher eine weitere Abordnung in Washington zusammenzutrommeln. Zu diesem Grossaufgebot gehörten Aussenminister John Kerry und James Baker, einer seiner Vorgänger, Sicherheitsberaterin Susan Rice mit Vorgängerin Condoleezza Rice, CIA-Direktor John Brennan mit seinen Vorgängern Stephen Hadley und Brent Scowcroft sowie Lisa Monaco, Obamas Beraterin in Fragen der Terrorismusbekämpfung.
Dass die Weltmacht ihre gesamte Führungsspitze nach Riad schickte, zeigt, dass die USA die protokollarische Pflichtvisite zu einer Grundsatzdiskussion über die schwerwiegenden Probleme aufwerteten, die zwischen beiden Ländern bestehen. Uneins sind sich Washington und Riad über die beiden wichtigsten Exportgüter Saudi-Arabiens: über den massenhaften Export der auf der wahhabitischen Variante des Islam beruhenden islamistischen Ideologie des Landes und über den Export von – Erdöl.
Saudischer Ideologie-Export
Noch immer stützt sich das saudische Herrscherhaus auf die im 18. Jahrhundert vom Prediger Abdul Wahhab im Gebiet des heutigen Riad propagierte Variante des Islam, wonach Frauen keine Rechte haben, Homosexuelle verfolgt und Todesurteile öffentlich mit dem Säbel vollstreckt werden. Auch die Attentäter von Paris haben sich auf die Ideologie des IS berufen, deren Ursprung in Riad liegt. Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu zynisch, dass sich auch ein hochrangiges Mitglied des saudischen Königshauses unter die Trauergemeinde von Paris gemischt hatte. Und während die politischen Honoratioren aus aller Welt dem saudischen Herrscherhaus ihre Aufwartung machten, den neuen König Salman umwarben und Angela Merkel den verstorbenen Abdullah einen klugen Führer nannte, schmachtete der saudische Blogger Raif Badawi in einem Kerker, verurteilt zu zehn Jahren Haft und eintausend Peitschenhieben. Sein Vergehen: Er habe den Islam und das saudische Herrscherhaus verunglimpft.
Milliarden Dollar geben die Saudis aus, um einen Ideologieexport zu finanzieren, der solche archaischen Strafen wie die gegen Raif Badawi verlangt. Der Ideologietransfer hat fatale Folgen in der gesamten islamischen Welt: Auf die in Saudi-Arabien geltende vorzeitliche Rechtsprechung berufen sich die Terroristen von Al Qaida, die Taliban in Afghanistan und auch der IS. So bestrafen etwa Saudi-Arabien und der IS Gotteslästerung und Homosexualität gleichermassen mit dem Tode. Ebenso züchtigen Saudi-Arabien und der IS Ehebrecher mit 100 Peitschenhieben. Wie in Saudi-Arabien, so wird auch im Herrschaftsbereich des IS Dieben eine Hand amputiert. Allerdings ist der Tod auf dem Scheiterhaufen, wie ihn der jordanische Pilot erleiden musste, in der traditionellen islamischen Rechtsprechung an keiner Stelle vorgesehen.
Kampf gegen Schiiten
Es gibt weitere Gemeinsamkeiten zwischen dem IS und dem saudischen Herrscherhaus. Für beide etwa sind Schiiten Ketzer, die es zu bekämpfen gilt. Im Irak führt der IS einen gnadenlosen Feldzug besonders gegen die schiitische Bevölkerungsmehrheit. Saudi-Arabien beherbergt zwar eine vom Herrscherhaus bis dato weitgehend diskriminierte schiitische Minderheit. Doch das Königreich zog ebenfalls gegen die Schiiten zu Felde, als König Abdullah, den gerade alle Welt einen moderaten Herrscher nannte, im März 2011 seine Truppen in Bahrain einmarschieren liess, um den dortigen schiitischen Aufstand gegen das sunnitische Herrscherhaus zu unterdrücken. Anfang Februar haben die Huthis – die zum Zaidi-Zweig der Schiiten gehören – im jemenitischen Sanaa die Macht übernommen. Die Bewegung hatte 1992 der Huthi-Clan im Norden des Landes gegründet. Nach der Invasion der USA im Irak im Jahre 2003 hatte sie begonnen, gegen die USA und Israel zu agitieren. Vermutlich ist diese verhältnismässig neue religiös-politische Bewegung nicht ohne Unterstützung des schiitischen Iran geblieben.
Das Ergebnis: Heute sieht sich das Königreich der Saudis eingekreist von Mächten, deren religiöse und politische Ambitionen in Riad als hochgefährlich für den eigenen Machterhalt angesehen werden. Und bislang fällt dem saudischen Herrscherhaus nichts anderes ein, als sich durch den Bau eines hoch befestigten Zaunes an seiner Grenze zum Jemen vor dem Eindringen von Dschihadisten zu schützen. Diese Dschihadisten waren bislang vor allem Mitglieder der sunnitischen Terrorgruppe Al Qaida. Nun aber fürchten die Saudis auch das Eindringen schiitischer Huthi-Milizen.
Der neue grosse Ölkrieg
In dieser vertrackten Situation sieht sich die saudische Schutzmacht USA in einer Zwickmühle. Ihr Drohnenkrieg gegen Al Qaida in Afghanistan und im Jemen ist auch ein Krieg, der die Konsequenzen des saudischen Ideologieexports eliminieren soll. Doch Druckmittel gegen die Saudis haben die USA kaum. Denn seit der Entdeckung erheblicher Mengen Öls im Jahre 1938 bei Dammam am Persischen Golf hat sich eine enge Verbundenheit zwischen den USA und dem Wüstenkönigreich der Familie Saud entwickelt. Bis in die jüngste Vergangenheit waren die USA im hohen Masse abhängig von den Lieferungen aus Saudi-Arabien. Aus Sicht Washingtons war und ist daher die politische Stabilität des Königreichs oberstes Ziel ihres Handelns in der Region.
Die ständige Verletzung der Menschenrechte im Land wurde dabei geflissentlich übersehen. Hinzu kommt, dass Saudi-Arabien als Swing-Producer gilt: Fällt der Ölpreis zu sehr, können die Saudis die Produktion drosseln, um den Preis zu stabilisieren. Umgekehrt ist es ihnen möglich, die Produktion hochzufahren, um durch ein grösseres Angebot hohe Ölpreise zu deckeln. Seit einigen Monaten nun weigert sich das Land, seine hohe Fördermenge zu reduzieren, um den freien Fall des Ölpreises zu stoppen. Das dadurch entstandene Überangebot hat die Preise drastisch sinken lassen. Fachleute mutmassen, dies sei eine gewollte Politik; sie sprechen von einem neuen „grossen Ölkrieg“.
US-Konkurrenz für die Saudis
Tatsache ist, dass niedrige Ölpreise den saudischen Erzrivalen Iran deutlich schwächen, auch Russland und der Jemen kommen durch die niedrigen Preise in wirtschaftliche Nöte. Dem IS, der sich auch durch den Verkauf aus den von ihm eroberten Ölquellen finanziert, werden ebenfalls die Mittel beschränkt. All diese Ergebnisse saudischer Überproduktion – einschliesslich der damit verbundenen Aufwertung der Weltleitwährung des US-Dollar – können den Vereinigten Staaten nur recht sein.
Allerdings vermutet unter anderem der Publizist Tomasz Konicz, dass sich dieser Ölkrieg auch gegen den alten Partner USA richten könnte. *1) Die Vereinigten Staaten sind durch ihre hochentwickelte, allerdings hochgradig umweltschädliche Förderung durch das Fracking selbst zu einem grossen Ölproduzenten und damit zum Konkurrenten der Saudis auf dem globalen Ölmarkt aufgestiegen. Fracking lohnt sich allerdings nur bei einem Ölpreis von ca. 60 Dollar pro Faß. Bei einem von den Saudis herbeigeführten Überangebpt sinkt der Preis so sehr, dass amerikanische Firmen der Bankrott droht. Genau dieses Ziel verfolgt offenbar Suhail al-Mazrouei, Ölminister der Vereinigten Arabischen Emirate, wenn er, stellvertretend für alle OPEC-Mitglieder, fordert, die USA müssten die Produktion von Energieträgern aus „unkonventionellen Quellen“ einschränken. „Wir sehen“, so al-Mazrouei, „ein Überangebot, primär aus Schieferöl, und das muss korrigiert werden.“ *2)
Nahost und die Sucht nach Öl
Jede Sucht macht abhängig, und die Sucht nach Öl hat die USA in Nahost in eine Falle geführt. Es war auch das Öl, das ein Hauptmotiv beim Einmarsch amerikanischer Truppen in den Irak im Jahre 2003 bot – und nicht die Suche nach Massenvernichtungswaffen, von denen man hätte wissen müssen, dass es diese nicht mehr gab.
Die ersten Kontingente, die damals Bagdad erreichten, schützten das irakische Ölministerium – während das weltbekannte irakische Nationalmuseum unbewacht blieb und von Plünderern ausgeraubt wurde. Zwölf Jahre zuvor hatte George Bush sen. noch Saddam Husseins Truppen – allerdings mit einem Mandat der Vereinten Nationen – aus Kuwait vertrieben. Zuvor hatte er allerdings – ohne UN-Mandat – in einem wochenlangen Bombardement die Infrastruktur des Landes lahmgelegt – wohl wissend, dass dieser Irak damals das am höchsten entwickelte Land der arabischen Welt war. Was Vater George H. W. Bush und sein General Norman Schwarzkopf begonnen hatten, vollendete Sohn George W. Bush 2003: Er löste die staatstragende Baath-Partei auf, schickte die Armee nach Hause und schuf so ein Vakuum, in das der IS aus dem Bürgerkriegsland Syrien mit Leichtigkeit hineinstossen konnte – zumal viele der ehemaligen Offiziere Saddams zum IS überliefen.
Der IS auf dem Vormarsch
Dessen Arme reichen inzwischen auch in einen Staat, der bis dato als ein Musterland der Stabilität und vor allem der territorialen Integrität galt: Auch in Ägypten hat der IS längst Fuss gefasst. Ende 2014 rief die Terrorbande auf dem Sinai einen Kanton namens „Islamischer Staat auf dem Sinai“ aus. Unterstützung findet der IS bei den Beduinen des Berglandes, die vom Mubarak-Regime ebenso vernachlässigt wurden wie vom Wiedergänger Mubaraks, dem neuen Diktator Abdel Fattah al-Sisi. Die ägyptische Armee wird der Anschläge auf ihre Truppen auf dem Sinai nicht Herr. Mitte Januar etwa starben dort 20 Menschen bei einem IS-Anschlag. Anfang Februar explodierte in der Kairoer Innenstadt eine Bombe, zwei weitere Bomben wurden auf dem Flughafen entschärft. Die gnadenlose Verfolgung der Muslimbrüder durch das Sisi-Regime erzeugt nichts als Gegengewalt, die sich der IS zunutze macht. (Auch ausserhalb Ägyptens, wie jüngst die Enthauptung von 21 koptischen Christen in Libyen zeigte.)
Mit der Etablierung des IS auf dem Sinai hat die Terrorgruppe die Grenze zu Israel erreicht. Schon sagen Palästinenser, die nicht der Hamas nahestehen, voraus, dass der nächste Widerstand gegen die israelische Besatzung nicht mehr allein von der Hamas, sondern auch vom IS gesteuert werde. Israelische Gefangene – welch Schreckensszenario – würden dann umgehend geköpft oder verbrannt. Und noch eine Horrorvision könnte alsbald Realität werden: Sollten die Atomverhandlungen mit dem Iran endgültig scheitern und zudem Benjamin Netanjahu erneut zum israelischen Ministerpräsidenten gewählt werden, dann würde Israel wohl die Bombardierung der iranischen Atomanlagen abermals auf die Tagesordnung setzen.
Der Gordische Knoten
Es gibt die Sage vom Makedonenkönig Alexander, genannt der Grosse, der im Jahre 333 v. u. Z. den am Wagen des phrygischen Königs Gordios kunstvoll geflochtenen Knoten mit dem Schwert durchschlagen und damit alle Probleme gelöst haben soll. Der politische, ideologische und militärische Knoten, in dem die verschiedenen Akteure der nahöstlichen Welt heute verwickelt sind, ist allerdings keineswegs kunstvoll geflochten. Vielmehr ist er durch die fehlerhafte Politik der Regierenden vor allem in Washington, Bagdad, Jerusalem, Damaskus, Teheran und nicht zuletzt Riad unentwirrbar geworden, so dass eine diplomatische Lösung derzeit kaum noch eine Chance hat.
Was bleibt, sind lokal begrenzte Kriege – nicht als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern als pure Notlösungen. Barack Obama, der kürzlich noch erklärt hatte, jeder Krieg müsse einmal zu Ende gehen, bleibt nichts anderes übrig, als den IS mit einem Gross-Bombardement zumindest in Schach zu halten. In diesem Bombenkrieg haben die USA jetzt einen äusserst engagierten Bundesgenossen bekommen: den jordanischen König Abdullah II. Angesichts mancher IS-Sympathisanten unter seinen Untertanen hatte er sich nur zögerlich der Allianz mit den USA angeschlossen. Nun aber hat er keine andere Wahl, als selbst Kampfflugzeuge gegen die Mörder seines Landsmannes zu senden. Hätte der König dieses Schwert nicht gezogen, wäre womöglich sein Thron in Gefahr geraten. Denn der getötete Kampfpilot kam aus dem einflussreichen Bararsheh-Stamm in der Nähe der Stadt Karak. Dieser Stamm ist dem Königshaus besonders verbunden und eine Stütze des Regimes. Ein weiteres Mal dient somit der Krieg dem Zwecke des Machterhalts – auch das ist traurige Realität in einer von Konflikten und Gewalt geplagten Region.
*1) Vgl. Thomasz Konicz, Der grosse Ölkrieg, www.heise.de/tp, 27.01.2015.
*2) 2 UAE says OPEC will no longer shore up oil price, Yahoo News, 13.1.2015.
Veröffentlichiung mit freundlicher Genehmigung der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ Berlin, Ausgabe März 2015