Im strategisch wichtigen Nachbarland Iran jedoch rechnen die Revolutionsgarden mit einem langen Bürgerkrieg –, den sie mitbestimmen wollen. Ismail Qaani, der neue Kommandeur der Quds-Brigaden, des Auslandsarms der Garden, ist ein Afghanistanveteran.
»طالبان شویی» – „Talibanwäsche“: Dieses Wort gehört bereits seit Wochen zum politischen Vokabular iranischer Journalisten. Und jeder weiss, was damit gemeint ist: Man braucht nur das Wort Taliban durch Geld zu ersetzen. Der Begriff soll an Geldwäsche erinnern, und so ist er auch gemeint.
Wandelt sich der Feind?
Die Wortneuschöpfung tauchte erstmals am 9. Juli dieses Jahres als Überschrift eines Leitartikels in der reformorientierten Teheraner Tageszeitung Etemad auf. Er war eine Warnung, eine Information darüber, was die Machthaber der Islamischen Republik demnächst in Afghanistan zu tun gedächten. Der Begriff „Talibanwäsche“ machte schnell die Runde und gehört seither zum Wortschatz aller, die sich über das weitere Vorgehen des Iran in seinem Nachbarland äussern.
An den Taliban kommt bekanntlich niemand vorbei. Und nach dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan stellt sich für alle politischen Gruppen im Iran die existenzielle Frage, wie man mit ihnen umgehen soll. Denn an ihrer Feindschaft gegenüber Schiiten inner- und ausserhalb Afghanistans zweifelt niemand. Dass der Iran 2001 den USA half, die Herrschaft der Taliban zu beenden, ist deshalb nachvollziehbar und sattsam bekannt.
Aber die Welt ändert sich.
Einen Tag nachdem bekannt wurde, dass die US-Truppen nach fast 20 Jahren Bagram, ihren grössten Stützpunkt in Afghanistan, über Nacht und fast heimlich verlassen hatten, erschien in der iranischen Tageszeitung Keyhan ein bemerkenswerter Leitartikel von Saadollah Zarei, dem einflussreichsten Kommentator dieser Zeitung.
Keyhan gilt als Sprachrohr von Ali Khamenei, dem mächtigsten Mann des Iran. Ungeschminkt und ohne Umschweife erläutert die Zeitung täglich die harte Linie, die Khamenei in seinen Ansprachen andeutet.
Der Leitartikler Zarei ist ein radikaler Publizist, der sich seiner engen Verbindungen zu den Geheimdiensten und den Revolutionsgarden rühmt und regelmässig als gefragter Experte für alle Stellvertreterkriege des Iran in der Region in verschiedenen Medien auftritt.
Die Sprache des Artikels ist klar, offen und bar jeglicher Polemik. Am Ende seines faktenreichen Textes kommt der Autor zum Schluss, die Taliban hätten sich inzwischen geändert, sie seien keine „Schiiten-Killer“ mehr: Der Iran müsse ihre Machtbeteiligung wohlwollend unterstützen.
Realpolitik mit den Taliban
Noch interessanter als dieser wegweisende Text ist ein Interview mit Said Leilaz, einem bekannten Wirtschaftsjournalisten, der dem iranischen Präsidenten Hassan Rouhani nahesteht. Leilaz ist inzwischen allen Nahost-Experten für sein aufsehenerregendes Interview mit dem iranischen Aussenminister Mohammed Javad Zarif bekannt.
In diesem Interview, das Ende April ausländischen Medien zugänglich geworden war, hatte Zarif erzählt, wie machtlos er sei und wie die Revolutionsgarden Irans Aussenpolitik bestimmten. Zarifs Äusserungen schlugen damals weltweit wie ein Paukenschlag ein, der vor allem in Washington genau registriert wurde.
Diesmal ist Leilaz selbst der Interviewte, und er legt offen und logisch dar, warum die Machtübernahme der Taliban für den Iran keine Gefahr, sondern eine Chance sei. Nichts sollte den Iran daran hindern, mit den Taliban zusammenzuarbeiten, auch Frauenrechte, ethnische oder religiöse Konflikte nicht, so Leilaz. Sollte durch die Machtergreifung der Taliban die Zahl der afghanischen Flüchtlinge im Iran steigen, sei auch das keine Gefahr, sondern eine grosse Chance: Denn der Iran sei wegen seiner niedrigen Geburtenzahlen eine alternde Gesellschaft, die afghanischen Immigranten könnten diese Lücke füllen.
So weit, so klar
Man könnte also sagen, im Iran laufe alles normal und unspektakulär. Wenn sich sogar die USA und der Rest der Welt mit einer baldigen Machtübernahme der Taliban abgefunden hätten, warum sollte es im Iran, dem wichtigen Nachbarland Afghanistans, anders sein? Es sei doch logisch und nachvollziehbar, dass sich die Islamische Republik ebenfalls auf eine baldige und wohl unabänderliche Machtverschiebung im Nachbarland vorbereite. Und wenn Zarif Kommandeure der Taliban in seinem Amtszimmer empfange, gehöre das ebenfalls zu dieser Normalität.
Das wahre Gesicht
Doch diese Normalität ist sehr facettenreich. Ihr prägendes, fast alles bestimmendes Gesicht sind die Revolutionsgarden. Und die rechnen offenbar nicht mit einer schnellen Machtübernahme der Taliban, im Gegenteil. Dem Nachbarland stehe ein langer und blutiger Bürgerkrieg bevor, den der Iran unbedingt mitbestimmen müsse. Diese Einschätzung muss man ernst nehmen.
Denn es sind die Revolutionsgarden, die das Regiment im Iran führen, innen- wie aussenpolitisch. Im afghanischen Bürgerkrieg waren sie von Anfang an präsent, schon in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, unmittelbar nach dem Einmarsch der Sowjetunion. Das afghanische Schlachtfeld war ihre Grundschule: Dort machten sie ihre ersten Schritte in ihrem ersten weltbewegenden Stellvertreterkrieg.
Heute, fast dreissig Jahre später, sind die Revolutionsgarden in den syrischen, irakischen, libanesischen und jemenitischen Bürgerkriegen zu einem Hauptakteur herangewachsen. Deshalb erlangte Qassem Soleymani, der im Januar 2020 vom US-Militär ermordete Kommandeur dieser Auslandseinsätze, zweifelhaften Weltruhm.
Soleymani wurde auch posthum zu einer Legende aufgebaut und viele meinten, nach ihm würde auch seine sogenannte Quds-Brigade an Einfluss verlieren. Zumal sein Nachfolger Ismail Qaani ein weitgehend unbekannter farbloser Gardist ist, der es nie schaffte, aus dem Schatten des omnipräsenten Soleymani herauszutreten, obwohl Qaani zu den Gründern der Quds-Brigade gehört.
Die Stunde des Unterschätzten
Mit der neuen Tragödie im Nachbarland Afghanistan schlägt nun die Stunde des Unterschätzten. Und Qaani weiss, was zu tun ist. Denn Afghanistan war immer sein Steckenpferd. Seit seinem 20. Lebensjahr ist der heute 63-Jährige bei den Revolutionsgarden, und während dieser Zeit mischte er wie ein Warlord im afghanischen Bürgerkrieg mit.
Qaani stammt aus Maschhad, der Hauptstadt der Provinz Khorasan, die an Afghanistan grenzt. Hier ist der erste Hotspot der afghanischen Flüchtlinge, die sich gegen Westen auf den Weg machen. Und hier gründete Qaani ein Militärcamp für die Geflüchteten, die dann in den 1980er Jahren im Iran-Irak-Krieg, in den 90er Jahren gegen die Taliban und im neuen Jahrhundert in Syrien und im Irak eingesetzt wurden. Rekrutiert wurden diese Kämpfer unter schiitischen Afghanen. Neben religiösen Motiven gab es auch irdische Anreize wie legalen Aufenthalt im Iran, kostenlose Schulbildung für die Kinder, Krankenversicherung sowie ein ansehnlicher Sold und besserer sozialer Status nach der Rückkehr.
Eine Armee der Flüchtlinge
Das Reservoir für diese Rekrutierung ist gross. Denn rund 3 Millionen afghanische Flüchtlinge führen im Iran ein prekäres Dasein zwischen extremer wirtschaftlicher Not und einer harten fremdenfeindlichen Diskriminierung – was solche Anreize äusserst attraktiv macht. Qaanis Armee der Flüchtlinge trägt den Namen „Fatemiyoun“; ihre Stärke schätzen manche Experten heute auf 20’000, die auf den Schlachtfeldern der regionalen Bürgerkriege gekämpft haben und von denen viele inzwischen nach Afghanistan zurückgekehrt sind.
Die Taliban mögen Feinde Amerikas sein, aber manchmal sei der Feind des Feindes ein noch grösserer Feind, schrieb Javan eine Woche, nachdem die Taliban Islam Qala, den Grenzposten zum Iran, eingenommen hatten. Javan ist die wichtigste Webseite der Revolutionsgarden, die die Tagespolitik für Eingeweihte erläutert.
Am 19. Juli meldeten die iranischen Zeitungen die Gründung einer afghanischen Brigade namens Hashd al Shii (حشدالشیعی – die Masse der Schiiten). Das arabische Wort حشد – hashd – bedeutet Menge, Masse. Es kommt darauf an, womit es kombiniert wird. Im Irak heissen sie حشد الشعبی – Masse des Volkes.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal