Der Erfolg von Claas Relotius war geradezu märchenhaft. Viermal, in den Jahren 2013, 2015, 2016 und 2018, wurde er mit dem „Deutschen Reporterpreis" ausgezeichnet, CNN ehrte ihn 2014 als „Journalist of the Year“. Dazu kamen der „Liberty Award“, der „European Press Prize“ und der „Peter-Scholl-Latour-Preis“ der Ulrich-Wickert-Stiftung. Und das in noch ganz jungen Jahren: Relotius ist Jahrgang 1985.
Die Kollegen lagen ihm zu Füssen. Er galt als charismatische Figur, ohne jede Spur von Arroganz. Als Gesprächspartner schenkte er seinem Gegenüber stets die volle Aufmerksamkeit. Wenn jemand Kummer hatte, galt ihm sein ganzes Mitgefühl. Und er schrieb wie der beste Mitarbeiter Gottes. Auf der Magie seiner Texte ruhten die Hoffnungen aller, die sich den entscheidenden Kick für das Überleben ihres Print-Mediums ersehnten.
Erstes Misstrauen
Sein deutlich älterer Kollege Juan Moreno hatte das Pech, ohne es zu wollen auf die Fälschungen von Relotius aufmerksam zu werden. Dies geschah, als beide für den Spiegel von der amerikanisch-mexikanischen Grenze berichteten. Moreno begleitete einen Zug von Flüchtlingen, die im Verlauf von mehreren Wochen von Honduras aus an die mexikanisch-amerikanische Grenze gelangen wollten. Relotius wiederum hatte die Aufgabe, über selbsternannte Grenzschützer auf amerikanischer Seite zu berichten. Beide Perspektiven wurden zu einer Reportage zusammengefügt, die unter dem Titel, „Jägers Grenze“, am 17.11.2018 im Spiegel erschien und ein Knüller war. Aber dieser Knüller brach Relotius das Genick.
Das Misstrauen von Juan Moreno wurde dadurch geweckt, dass Claas Relotius angeblich etwas gelungen war, was vor ihm noch kein anderer Reporter geschafft hatte: sich innerhalb weniger Tage Zugang zu einer der Gruppen militanter Grenzschützer zu verschaffen und mit ihr auf Patrouille zu gehen. Moreno wusste von anderen Reportern, dass Monate geduldiger Arbeit nötig waren, um sich dafür das nötige Vertrauen aufzubauen.
Hinzu kam, dass Relotius es unter fadenscheinigen Vorwänden ablehnte, sich von einem Fotografen begleiten zu lassen. Wie konnte er so spielend Zugang gewinnen, aber ein Fotograf durfte nicht dabei sein? Als Moreno schliesslich den Entwurf zur Reportage zu lesen bekam, fielen ihm zahllose Unstimmigkeiten auf. Denn er kannte sich in dieser Region recht gut aus.
Morenos Leidenszeit
Damit begann für ihn aber eine Leidenszeit. Relotius hatte das absolute Vertrauen und die Rückendeckung der beiden zuständigen Spiegel-Redakteure, Matthias Geyer und Ulrich Fichtner, die bereits als Chefredakteure des künftigen Spiegel vorgesehen waren. Relotius sollte dann Ressortchef der Redaktion „Gesellschaft“ werden, in der seine bisherigen Beiträge ebenso erschienen waren wie die neue Reportage. Moreno aber war nur freier Mitarbeiter. Schon als er die ersten Zweifel äusserte, wurde ihm klargemacht, was man davon hielt, nämlich nichts. Man unterstellte ihm nur Neid und Missgunst.
Moreno schildert, wie es ihm auch dank der freundschaftlichen Unterstützung einiger Kollegen gelang, das Lügengespinst Stück für Stück zu durchdringen. Diese Schilderungen sind so spannend wie ein hervorragender Krimi. Und man bewundert seinen Mut und seine Zähigkeit. Wiederholt geriet Juan Moreno mit seinen Vorgesetzten aneinander, und ihm war klar, dass sie sich bald von ihm trennen würden.
Kaltblütigkeit
Nach zäher Recherche gelang Moreno ein Coup. Er fand in der Internetzeitung „Mother Jones“ eine Reportage über die von Claas Relotius angeblich besuchte Gruppe „Arizona Border Recon“, in der die Personen, die Relotius getroffen haben wollte, vorkamen. Die Namen waren gleich wie bei Relotius, aber viele persönliche Einzelheiten waren anders. Auch die „New York Times“ hatte bereits Ende 2016 einen Bericht über diese Gruppe mit Fotos veröffentlicht. Da stimmten viele Einzelheiten mit den Angaben von Relotius nicht überein. Zusammen mit einem Freund gelang es Moreno, diese Personen aufzusuchen und im Rahmen einer Videoaufzeichnung aussagen zu lassen, dass die von Relotius in die Welt gesetzten Behauptungen über sie allesamt falsch waren und dass er sie auch niemals persönlich besucht hatte.
Das war eine Bombe, aber sie zündete nicht. Denn Relotius reagierte darauf mit geradezu übermenschlicher Kaltblütigkeit. Für jede Unstimmigkeit stellte er detaillierte Erklärungen bereit, die scheinbar nur bestätigten, dass er ein akribisch arbeitender Reporter war, dem auch nicht das kleinste Detail entging. Das war eine Methode, die Relotius schon vorher in anderen Fällen angewendet hatte.
Fantasierte Hinrichtungen
Eines der krassesten Beispiele dafür ist die Reportage „Die letzte Zeugin“ (erschienen am 3. März 2018), in der er eine Frau, Gayle Gladis, schildert, die in den USA allen Hinrichtungen beiwohnt. Das Motiv dafür liegt in der ungesühnten Ermordung naher Angehöriger. Packend schildert Relotius nun die Einzelheiten dieser Hinrichtungen. Als diese Reportage erschien, las sie die Deutsche Gabi Uhl, die sich gegen Hinrichtungen in den USA engagiert und daher sehr präzise informiert ist. Viele Fehler machten sie stutzig. So schildert Relotius eine Hinrichtung in Arizona, die vor kurzem stattgefunden haben soll. Gabi Uhl aber wusste, dass es in Arizona seit 2014 keine Hinrichtungen mehr gab. Und die Prozeduren und die Sterbeprozesse laufen auch nicht so ab, wie von Relotius geschildert. Allerdings fand sie seine Quelle, die ihn offensichtlich inspiriert hatte: den Film „Dead Man Walking“.
Relotius ging auf alle diese Vorhaltungen ein und gewann auf diese Weise das Vertrauen dieser Expertin. Er erklärte ihr, dass einige Fehler in einer noch unkorrigierten Textfassung gestanden hätten, die versehentlich im Internet erschienen sei. Sie glaubte ihm, auch wenn kaum zu glauben ist, dass solche gravierenden Fehler überhaupt entstehen konnten. Komplett falsche Angaben sind schliesslich etwas anderes als Tippfehler in Namen oder andere Flüchtigkeitsfehler.
Gefälschte E-Mails
Überführt wurde Relotius erst, als Moreno nachweisen konnte, dass E-Mails, die Relotius zu seiner Entlastung vorgelegt hatte, eindeutig von ihm gefälscht waren. Von jetzt auf gleich wurde er fallengelassen. Sofort trat der Spiegel mit den Erkenntnissen von Juan Moreno an die Öffentlichkeit, denn Moreno wusste, dass stündlich mit einer Enthüllungsstory einer amerikanischen Kollegin gerechnet werden musste. Die Blamage für den Spiegel wäre noch viel grösser gewesen.
Als erfahrener Reporter fragt Moreno, wodurch die gefälschten Reportagen derartig erfolgreich sein konnten. Sie mussten bei den Kollegen auf ganz tief sitzende Vorstellungen und Erwartungen treffen. Relotius malte ihnen Bilder, auf die sie sehnsüchtig gewartet hatten, schreibt Moreno einmal. Mit diesen Überlegungen und Deutungen wird aus dem spannenden Krimi eine tiefgreifende Reflexion der journalistischen Arbeit. Was suchen die Journalisten und mit ihnen die Leser? Und warum glauben sie, dass das Geschilderte wahr ist?
Was ist die objektive Realität?
Vordergründig geht es zunächst einmal darum, dass der Reporter über das berichtet, „was ist“, wie es im Spiegel heisst. Wenn er schreibt, er habe mit jemandem gesprochen, dann darf das keine Erfindung sein. Tatsachenbehauptungen werden zudem von der Dokumentationsabteilung des Spiegel überprüft. Der Spiegel ist stolz darauf, dass sie grösser ist als bei anderen Blättern.
Aber sind die geschilderten Sachverhalte objektive Tatsachen? Moreno macht darauf aufmerksam, dass in alle Recherchen und daraus folgende Berichte Vorentscheidungen einfliessen, die in der Subjektivität des Reporters liegen. Warum interviewt er diese Person und nicht jene? Wie trifft er die Auswahl zwischen wichtigen und weniger wichtigen Vorgängen? Und vor allem: Wie verknüpft er das, was er recherchiert hat, zu einer lesenswerten Geschichte? Was lässt er weg?
Unter dem Titel der Erkenntnistheorie sind diese Fragen breit in der Philosophie behandelt worden. Einige Philosophen sind zu der Einsicht gelangt, dass jede Aussage, die über ein blosses „Das da“ hinausgeht, bereits eine Fülle von subjektiven Elementen enthält. Die Kunst der Journalisten, jedenfalls der erfolgreichen, besteht nun darin, eine anschauliche und spannende Geschichte zu erzählen und gleichzeitig dem Leser den Eindruck zu vermitteln, er schaue wie durch ein Vergrösserungsglas auf die Wirklichkeit.
Die Subjektivität des Lesers
Aber auch der Blick des Lesers ist vorgeprägt. Denn er liest nur dann eine Geschichte, wenn er sich dafür interessiert. Und mit diesem Interesse sind ganz bestimmte Erwartungen verknüpft. So kann er sich schlicht und einfach Spannung wünschen. Zudem erhofft er sich eine Bestätigung seiner Weltsicht. Das muss nicht das platte Das-habe-ich-doch-schon-immer-gesagt sein. Es geht auch subtiler. Er hat ja Vorstellungen von Ländern, Menschen, Parteien. Damit verbinden sich Intuitionen, was sich wie darstellen oder entwickeln könnte. Wenn ihm jemand eine Geschichte erzählt, die dazu passt, glaubt er sie.
Entsprechend schrieb der begeisterte Matthias Geyer nach dem Erscheinen der Reportage über eine amerikanische Kleinstadt unter dem Titel „Fergus Falls“ (Spiegel 13/2017) an Relotius, er und seine Kollegen „sind uns einig, dass dir damit ein ganz starkes Stück gelungen ist. Du hast einen wesentlichen Teil der amerikanischen Gesellschaft unters Mikroskop gelegt und mit leisen Tönen einen Text geschrieben, der einem endlich klarmacht, was da los ist.“
Juan Moreno macht darauf aufmerksam, dass sich die Menschen in dem ganzen Durcheinander unserer Zeit Erklärungen wünschen. Sie möchten nicht hören, dass alles absolut zufällig und sinnlos ist. Sie möchten noch im Schlimmsten so etwas wie Sinn finden. Sie möchten sich mit Personen identifizieren können, die ihren Weg machen. Genau das lieferte Relotius, weil er sich wie kein Zweiter in seine Kollegen, Vorgesetzten und Leser hineinfühlen konnte und keine Skrupel hatte, die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu überschreiten. Er erfand für sie Geschichten, die sie glücklich machten. Er war, wie Moreno schreibt, der perfekte Hochstapler.
Eine der wenigen, die sich dadurch nicht blenden liess, war Franziska Augstein. Sie sagte, sie lese die Geschichten von Relotius nicht gerne, denn sie habe dabei immer das Gefühl, dass alles schon irgendwie zu wissen.
Juan Moreno, Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus, 288 Seiten, Rowohlt Berlin 2019, ca. 18 Euro