Am 28. Februar, 27 Jahre nach dem Ende seiner Herrschaft und nachdem er drei Vorladungen missachtet hatte, erschien François „Baby Doc“ Duvalier vor Gericht. Zum ersten Mal musste er Fragen des Gerichts und der Anwälte der Familienangehörigen von Opfern aussergerichtlicher Exekutionen, von unter seiner Herrschaft Verschwundenen und Überlebenden seiner Folterkammern beantworten.
„Was immer als nächstes geschehen mag“, kommentierte ein Sprecher von Human Rights Watch den Auftritt, „die Haitianer werden nun dieses Bild ihres einstigen Peinigers in Erinnerung behalten.“
Wer vergisst und wer nicht vergisst
„Der Weg zu Gerechtigkeit ist noch sehr lang“, deutete auch Javier Zúñiga, ein Sonderberater für Amnesty International (AI), Zweifel an einer möglichen Verurteilung Duvaliers an.
Die Zweifel, dass sich die Verantwortlichen für Haitis Elend tatsächlich jemals juristisch verantworten müssen, sind durchaus angebracht. Haitis Leid ist eine nie endende Geschichte. Und noch nie musste sich auch nur einer der Dutzende von Diktatoren, die das Land im Verlauf seiner 210-jährigen Geschichte plünderten und vergewaltigten, für sein Tun verantworten. „Bay kou bliye; pote mak sonje“, lautet ein haitianisches Sprichwort: „Jener, der schlägt, vergisst; jener mit den Narben erinnert sich.“
1986 war Baby Doc in sein französisches Exil ausgeflogen worden, und seither schienen sich seine Verbrechen auf Verletzungen französischer Einwanderungsgesetze oder unbezahlte Hotelrechnungen zu beschränken. Und in Haiti änderten sich mit seiner Flucht nur die Namen der Diktatoren. Auf Duvalier kam General Henri Namphy, der 1987 die geplanten Wahlen in einem Blutbad ertränkte und dem weitere Namen folgten, General Prosper Avril, General Williams Regala, Heubreux, Paul. Die Offiziere ersetzten sich in regelmässigen Intervallen gegenseitig.
Ein Priester als Präsident
Im Dezember 1990 gewann Pater Jean-Bertrand Aristide, der in Kanada, Griechenland und Israel Theologie und Psychologie studiert hatte, neben Französisch und Kreolisch auch Spanisch, Griechisch, Hebräisch und Englisch sprach, und sich besonders in Elendsquartieren wie Cité Soleil oder Carrefour Feuilles grosser Beliebtheit erfreute, die Wahlen.
Im Februar darauf trat Aristide, der Kapitalismus für eine „Todsünde“ hielt, sein Amt als Präsident Haitis an. Er leitete eine Landwirtschaftsreform ein, führte ein rudimentäres öffentliches Gesundheitssystem ein, initiierte eine Alphabetisierungskampagne, fror die Preise für Grundnahrungsmittel ein, versuchte Arbeitsplätze zu schaffen, den täglichen Mindestlohn von 38 Cent auf zwei Dollar anzuheben, gegen die Korruption in der Geschäftswelt anzugehen und den Drogenhandel der Militärs einzudämmen.
Die Fälschungen der CIA
Der erste frei gewählte Präsident in der Geschichte Haitis war eindeutig nicht nach dem Geschmack der USA. Sofort setzte eine Destabilisierungskampagne ein. Plötzlich kursierten angebliche Brandreden, in denen Aristide seinen Gegnern mit dem Tod drohte. Dann sickerten Dokumente an die Öffentlichkeit, die zu belegen schienen, dass der populäre Pater „geistig instabil“ war. Die Reden waren wie die psychiatrischen Gutachten CIA-Fälschungen. Nach weniger als acht Monaten Amtszeit jagten ihn die Offiziere aus dem Amt.
Raoul Cédras, der Chef der neuen Regierungsjunta, war bekannt als eine US-„intelligence source“. Der Führer einer Todesschwadron, Emmanuel „Toto“ Constant, stand auf der Gehaltsliste der CIA, die amerikanische „Major Baseball League“ konnte ihre Bälle auch weiterhin billig in Haiti herstellen lassen.
Amerikanische Destabilisierungsbemühungen
Zwar flogen US-Jets auf Druck des amerikanischen Kongresses 1994 die regierenden Generale in die Länder ihrer Wahl, wo sie mit all ihren Familienangehörigen ins sorglose Pensionärsdasein ziehen durften, und Mitte Oktober traf Père Titid, wie ihn die Haitianer liebevoll nannten, unter dem Schutz einer 20 000 Mann starken amerikanischen Besatzungsmacht wieder in Port-au-Prince ein.
Aristide war zurückgekommen, sein Programm aber hatte er auf Druck der US-Regierung aufgeben müssen: Er hatte sich für eine freie Marktwirtschaft entscheiden und eine breite Koalitionsregierung akzeptieren müssen, die garantierte, dass seine einstigen Ziele, eine Verbesserung der Lebensbedingungen der überwältigenden Masse der Haitianer zu erreichen, in unerreichbare Ferne rückten. Im November 2000 wurde er sehr zum Verdruss Washingtons dennoch wiedergewählt.
Das Morden trainieren
Schon Anfang 2001 begannen die USA, eine 600 Mann starke paramilitärische Streitkraft von Aristide-Gegnern aufzubauen und mit 1,2 Millionen Dollar zu finanzieren. Die Finanzierung lief über das International Republican Institute (ISI) mit dem offiziellen Verwendungszweck „Förderung der Demokratie in Haiti“. Die 600 Mann wurden in der Dominikanischen Republik von 200 Fachkräften der US Special Forces in den Ortschaften Neiba, San Cristobal, San Isidro, Hatillo und Haina trainiert. Unter den Teilnehmern des Programms waren sowohl Mitglieder der ehemaligen Tontons Macoutes, der Prügel- und Mordbrigaden der Duvaliers, als auch Mitglieder anderer Milizen, die grober Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden.
Gleichzeitig überzeugten die USA einige europäische Länder, Hunderte von Millionen Dollar Kredite und Hilfsgelder zu suspendieren, und drängten den IMF, die Weltbank und die EU, Haitis Wunsch nach günstigeren Kreditlinien zurückzuweisen. Die Wiederaufnahme der internationalen Hilfe wurde davon abhängig gemacht, dass Präsident Aristide mit der Oppositionspartei, Demokratische Annäherung, die von rechtsgerichteten haitianischen und amerikanischen Interessen finanziert und kontrolliert wird, zu einer Übereinkunft käme.
Angeführt von Anhängern des einstigen Diktators Duvalier sowie den US-trainierten Milizionären, formierte sich in den Provinzen Widerstand gegen den Priester. Nach bürgerkriegsähnlichen Unruhen, die sie selbst geschürt hatten, intervenierten die USA im Februar 2004 mit einer Invasionsstreitmacht und zwangen Aristide auf Betreiben der französischen Regierung, die den Priester überhaupt nicht mochte, ins Exil: 2001 auf der UN-Rassismuskonferenz in Durban hatten Haitis Repräsentanten von Frankreich die Rückzahlung jener 150 Millionen Goldfrancs gefordert, die das Land einst den ehemaligen Kolonialherren als Kompensation für verlorenen Besitz und entgangene Profite hatte bezahlen müssen.
Die Strafe für Sieg und Unabhängigkeit
Zweihundert Jahre zuvor, 1804, hatten eine Sklavenarmee und die Malaria die 50 000 Mann starke französische Armee, die Napoleon in die Kolonie geschickt hatte, besiegt und die Unabhängigkeit Haitis erklärt. Diese Schande, dass es nicht Engländer, Preussen oder Russen, sondern Schwarze waren, die napoleonischen Truppen die erste Niederlage beibrachten, scheint ihnen der Weisse Mann nie verziehen zu haben. 200 Jahre lang sollte Haiti dafür bluten und bezahlen.
1825 zwang Paris Port-au-Prince, jährliche Zahlungen zu leisten als Kompensation für Profite, die den einstigen Plantagenbesitzern und Sklavenhaltern entgingen, weil sich die Sklaven befreit hatten. Im Gegenzug hoben Frankreich, England und die USA das Embargo auf, das sie seit 1804 über Haiti verhängt hatten, und erklärte sich Paris bereit, Haiti als unabhängigen Staat anzuerkennen. - Die USA erkannten Haitis Unabhängigkeit erst 1862 an, nachdem sich die amerikanischen Südstaaten von der Union getrennt hatten.
Kredite mit Wucherzinsen
Auf 150 Millionen Goldfrancs bezifferten die französischen Buchhalter den Verlust, die alle Wertgegenstände auflisteten, die den einstigen Kolonialisten und dem französischen Staat durch die Revolution verloren gegangen waren. - Gezählt wurden neben immobilen Werten auch die Bevölkerung einschliesslich der Verhandlungsemissäre Haitis, die 21 Jahre zuvor als Sklaven ja ebenfalls einen monetären Wert dargestellt hatten.
Während des gesamten 19. Jahrhunderts musste die haitianische Regierung darum immer wieder Kredite zu weit überhöhten Zinssätzen in Frankreich aufnehmen. Diese Zahlungen frassen regelmässig 70 Prozent aller Deviseneinnahmen des Inselstaates und machten aus der einst reichsten Kolonie Frankreichs das Armenhaus Amerikas. Wenn schlechtes Wetter die Kaffee- oder die Zuckerernte verhagelte, musste Haiti in Frankreich Kredite zum doppelten des üblichen Zinssatzes aufnehmen, um seine Zahlungen auch weiterhin leisten zu können.
Die Rückforderung
Im März 1915 reagierte Washington auf Klagen amerikanischer Banken, bei denen Haiti tief verschuldet war, besetzte das Land, machte es zu einem de jure Protektorat der USA und schrieb ihm 1917 eine neue Verfassung. Nun kontrollierte eine US-Verwaltung die Finanzen und die Politik im Staat und baute einen Marinestützpunkt, um die Seewege zum Panamakanal besser schützen zu können.
1934 zogen die USA ihre Besatzungstruppen wieder ab, behielten aber auch weiterhin die Kontrolle über Haitis Aussenhandel, um sicherzustellen, dass das verarmte Land tatsächlich all seine Schulden bezahlte. Erst 1947, nachdem Port-au-Prince die letzte Rate der 150 Millionen Goldfrancs an Paris gezahlt hatte, gab Washington das Finanzwesen an Haiti zurück. Aristide hatte diese Zahlungen als ungerechtfertigt verurteilt und auf jener Konferenz in Durban die Rückerstattung zusätzlich der angefallenen Zinsen gefordert.
Das Versagen des reichen Westens
Hunderte seiner Anhänger wurden nach Aristides Verbannung von der Nationalpolizei ermordet, und noch eine grössere Anzahl verhaftet. 2004 outsourcten die USA die militärische Kontrolle Haitis an die Vereinten Nationen. „Die sogenannten peacekeepers der UN-Stabilisierungsmission in Haiti (MINUSTAH) erwarben schnell den Ruf, für zivile Verluste und Vergewaltigungen oder andere Sexualverbrechen verantwortlich zu sein“, berichtete Amnesty International. „Im Oktober 2010 (neun Monate nach dem verheerenden Erdbeben, in dem 230 000 Menschen umkamen und 1.6 Millionen obdachlos wurden) führte MINUSTAH’s Versagen, den Gesundheitszustand ihrer Soldaten zu prüfen und für ausreichende sanitäre Massnahmen auf ihren Stützpunkten zu sorgen, zum ersten Cholera-Ausbruch in Haitis Geschichte.
Die beiden Duvaliers brauchten 29 Jahre, um geschätzte 20 000 bis 30 000 Haitianer zu ermorden; die UN haben es geschafft, in gerade einmal zweieinhalb Jahren über 8000 Haitianer durch ihre empörende Fahrlässigkeit zu töten.“ Am 21. Februar 2011 erklärte Generalsekretär Ban Ki-Moon unter Hinweis auf ihre diplomatische Immunität, die Vereinten Nationen würden keine Verantwortung für die Epidemie übernehmen.
Das Vertrauen in die internationale Gemeinschaft ist verloren. Spender gaben nach dem Erdbeben 2.2 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau. Davon erhielt das US-Verteidigungsministerium, das 22 000 Mann in den Karibikstaat schickte, ein Fünftel und Haitis Regierung weniger als ein Prozent. Die aktuellste Prognose geht davon aus, dass auch Ende des Jahres immer noch 200 000 Haitianer in Zeltlagern leben müssen.
Elend ist gut für die US-Industrie
Immerhin sorgt sich die Regierung Barrack Obamas darum, dass Haiti auch weiterhin als Billiglohnland erhalten bleibt. Nur wenige Wochen nach dem Erdbeben hatte US-Botschafter Kenneth Merton in einem Kabel an seine Dienststelle in Washington potentiellen Investoren phantastische Gewinne in Aussicht gestellt.
„Der Goldrausch hat begonnen“, titelte The Nation unter Hinweis auf Fernschreiben und Emails aus der Sammlung Wikileaks. Die Dokumente enthüllten, dass die Regierung Präsident Barack Obamas im Interesse von Investoren und Firmen wie Hanes oder Levi Strauss massiv Druck auf Haitis Präsidenten René Préval ausübte, die Forderung zurückzuweisen, den Mindestlohn von 24 auf 61 Cent pro Stunde zu erhöhen.