Deutlich über 70 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung, weisen Meinungsumfragen aus, sind mit der Amtsführung von Joachim Gauck zufrieden und würden ihn gern auch in den nächsten Jahren als Staatsoberhaupt im Berliner Schloss Bellevue und in der Bonner Villa Hammerschmidt (dem weiterhin zweiten Sitz) sehen. Ähnlich positiv für ihn ist die Stimmung in den allermeisten der im Bundestag und in den Länderparlamenten vertretenen Parteien. Dennoch hat sich Gauck gegen eine zweite Legislatur entschieden – er, der einstige protestantische Rostocker Pfarrer, zu Zeiten der DDR dort auch Bürgerrechtler und nach der Wiedervereinigung von 1990 bis 2000 hoch engagierte Leiter jener Bundesbehörde, die im Volksmund noch immer seinen Namen trägt. Der Stelle also, welche die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit („Stasi“) aufarbeiten und möglichst deren Verbrechen aufdecken soll.
Ein schwerer Entschluss
Was hat den Mann zu der Absage bewogen? Zumal ja deutlich zu erkennen war, dass er nicht nur sehr schnell in das Amt hineinwuchs, sondern in gleichem Maße auch Freude daran fand, Staat und Gesellschaft zu repräsentieren. Dass ihm der Entschluss nicht leichtgefallen ist, war deutlich zu sehen, als er ihn bekannt gab. Als Begründung führte er an, nicht sicher sein zu können, ob er auch in den kommenden Jahren noch die notwendige Energie werde aufbringen können, um die Arbeitsbelastungen zu bewältigen. Tatsache ist, dass Joachim Gauck bei dem jetzt angekündigten Abtreten im nächsten Jahr mit dann 77 Jahren der älteste aller bisherigen Bundespräsidenten sein wird. Theodor Heuss, Heinrich Lübke oder Gustav Heinemann – sie erscheinen in der Erinnerung zwar deutlich älter. Dennoch schieden sie bereits mit 75 Jahren aus den Ämtern; ihre Nachfolger waren noch jünger.
Ungeachtet seiner inzwischen erreichten positiven Umfragewerte, schieden sich an dem Mann von der mecklenburgischen Ostseeküste immer wieder die Geister. Gauck war ja auch als Kandidat für das oberste Staatsamt keineswegs die erste Wahl im politischen Mehrheitsgerangel. Nicht wenige stießen sich an seiner ostdeutschen Herkunft. Aber selbst (die ja ebenfalls der DDR entstammende) Bundeskanzlerin Angela Merkel war gegen ihn. Grund: Gauck stand ursprünglich auf der Vorschlagliste von SPD und Grünen. Und so einer war 2012 in der Union nicht akzeptabel. Die Folge waren zwei krachende Flops von Merkel-Favoriten. Der erste, der Finanzfachmann Horst Köhler, war zwar hoch seriös, besaß jedoch kein politisches Stehvermögen und trat nach einer bösartigen Unterstellung aus den Reihen der Grünen beleidigt zurück. Und sein Nachfolger, Christian Wulff, erwies sich als zu schwach und zu ungeschickt, um einer Medienkampagne wegen angeblicher (sich später als unwahr erweisender) persönlicher Bereicherung die Stirn zu bieten.
Kompromiss als Glücksfall
Eine dritte Blamage bei der Besetzung eines so bedeutenden Postens konnten sich weder Merkel, noch die CDU/CSU leisten. Also akzeptierten sie – zwar hörbar mit den Zähnen knirschend – 2012 den weiterhin von SPD, Grünen und auch der FDP unterstützten Gauck nicht nur, sondern nahmen ihn sogar gleich noch für sich in Anspruch. Und er erwies sich als der, von Manchen erhoffte, Glücksfall. Vielleicht gerade, weil er nie bequem war – und es bis heute auch nicht ist. Der Rostocker gehört keiner Partei an. Lediglich in der dramatischen Endphase der DDR war er Mitglied des reformorientierten „Neuen Forum“ und saß für dieses im ersten frei gewählten Parlament („Volkskammer“) des untergehenden, zweiten deutschen Staates. Danach blieb er immer (parteipolitisch) ein unabhängiger, freier Kopf.
Das bedeutet – Joachim Gauck scheut sich nicht anzuecken. Wann immer er es für notwendig erachtet, setzt der glänzende Rhetoriker seine Gabe ein, um Denkanstöße zu geben, mitunter auch Mahnungen oder Zurechtweisungen. Der Bundespräsident hat – anders als es in der Weimarer Republik der 20-er Jahre vorigen Jahrhunderts der Fall war – keine politische Entscheidungs-Macht. Er kann im Wesentlichen als moralische Instanz agieren, Missstände anprangern und – wenn er es als angebracht erachtet – durchaus auch Klartext reden. Beispiele mit teilweise sogar großer Wirkung: Die Rede Richard von Weizsäckers zum 50. Jahrestag des Kriegsendes (Niederlage oder Befreiung der Deutschen?) oder die Mahnung Gustav Heinemanns in der ideologisch aufgeheizten 68-er-Zeit, nicht mit einem Finger auf andere zu zeigen. Denn man müsse immer bedenken, dass drei Finger derselben Hand auf einen selbst zurück wiesen.
Im Westen oft nicht begriffen
Gauck wiederum scheute sich nicht, notfalls auch auf außenpolitischer Bühne Ärger zu erregen. In Moskau las er Wladimir Putin wegen der gewaltsamen Annexion der Krim die Leviten, und in Istanbul erzürnte er Präsident Erdogan, weil er (lange vor der jetzigen Entschließung des Deutschen Bundestages) das Massaker an den Armeniern 1916 als „Völkermord“ bezeichnete. Innenpolitisch, wiederum, empörte sich keineswegs nur die „Linke“, als Gauck die Verpflichtung Deutschlands betonte, eine aktivere Rolle (notfalls auch militärisch) bei der Münchener Friedensgewinnung und –sicherung in der Welt zu spielen.
Auf einem besonderen Gebiet, freilich, war fast mit Händen zu greifen, wie sehr sich das Denken und die Zuordnung bestimmter Wertmaßstäbe des Präsidenten aus dem Osten vom Empfinden vieler Bürger vor allem im Westen bis heute unterscheidet. Es geht um den Begriff „Freiheit“. Für Gauck steht „Freiheit“ im Zentrum des Lebens. Kein Wunder – was Unfreiheit bedeutet, hat er viele Jahre lang erlebt. Und so wurde und wird er nicht müde, den Mitbürgern zu sagen, sie mögen doch begreifen, welch unsagbares Glück es bedeutet, „frei“ zu sein. Die Resonanz, vor allem in den (un)sozialen Netzen, darauf war nicht gerade freundlich. Da war (und ist) von der „Heulsuse aus dem Osten“ die Rede, von dem „larmoyanten Pastor“, ja sogar (Thema sicherheitspolitisches Engagement) vom „Kriegspfaffen“. Das sind gewiss extreme Stimmen einer Minderheit. Indes runzeln auch nicht Wenige darüber hinaus die Stirn, wenn der Präsident mit dem Wort „Freiheit“ zugleich auch die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen für sich selbst und die Gemeinschaft verknüpft. In Deutschland schaut man halt lieber fordernd auf „den Staat“ als Regler möglichst aller Probleme. Schließlich „zahle ich ja Steuern“…
„Habt doch Mut und Zuversicht“!
Als Joachim Gauck in einer kurzen Erklärung seinen Entschluss bekannt gab, nicht noch einmal für das Amt des Bundespräsidenten anzutreten, verband er das zugleich erneut mit einer „Botschaft“. Mit dem Aufruf nämlich an seine (offensichtlich als eher nörglerisch empfundenen) Mitbürger, doch positiv in die Zukunft zu schauen und auch zu sehen, dass ihr Land – ungeachtet aller nationalen und grenzübergreifenden Probleme – in Ordnung sei, seine öffentlichen und privaten Einrichtungen prima funktionierten und dies auch für die politischen und rechtlichen Institutionen gelte.
Die Absage des Bundespräsidenten für eine zweite Amtszeit kam nicht überraschend. Im Grunde hatte man damit gerechnet. Trotzdem wird jetzt das politische Gefüge in Berlin und im Lande in Bewegung geraten. Denn: Auch wenn das Amt seinem Inhaber nur wenig „Macht“ an die Hand gibt, ist die Besetzung doch immer das Ergebnis der jeweiligen Machtverhältnisse gewesen. Das hat niemand so deutlich ausgesprochen wie vor fast einem halben Jahrhundert der Sozialdemokrat Gustav Heinemann, der seine Wahl mit Hilfe der damals in Opposition befindlichen Liberalen als ein „Stück Machtwechsel“ bezeichnete. In der heutigen Konstellation mit deutlich mehr Parteien als damals darf man auf das öffentliche Gerangel ebenso gespannt sein wie auf mögliche Ergebnisse von Hinterzimmer-Gemauschel.
Namen, Gerüchte, Gerangel
Natürlich geistern jetzt schon Namen und Gerüchte durch das Land. Wie beinahe immer, wenn es um die Besetzung eines bedeutenden Postens geht, wird der Name des sozialdemokratischen Außenministers Frank-Walter Steinmeier genannt. Die seit 1989 schon dreimal umgetaufte und sich jetzt „Linke“ nennende ehemalige DDR-Staatspartei SED bringt – auch schon „traditionell“ - die Idee eines rot/rot/grünen Bündnisses (also mit der SPD) in die Diskussion ein. Von Bundeskanzlerin Angela Merkel heißt es, sie schätze den Außenminister natürlich außerordentlich, müsse aber ihrer – wegen der Flüchtlingspolitik – zunehmend unruhigen Gefolgschaft einen eigenen Kandidaten präsentieren. Wieder andere fragen, wann denn wohl endlich einmal eine Frau an die Spitze des Staates gehievt werde.
Dieses Spiel wird jetzt Fahrt aufnehmen. Namen sind bekanntlich Nachrichten, und Personal-Schach gehört zur Lieblingsbeschäftigung im Journalismus. Bisher, das zeigt der Blick auf die bundesdeutsche Geschichte, haben die Deutschen im Großen und Ganzen Glück gehabt mit ihren Präsidenten.