Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass landauf landab am heutigen 1. August die üblichen Reden vielfach düster, beschwörend, gelegentlich wohl auch apokalyptisch tönen werden. Die Schweiz in der Falle, die Schweiz im Abseits, die Schweiz von Gräben zerfurcht, die Schweiz gespalten – das alles sammelt sich seit Wochen in unseren Zeitungen und kann nun, aus passendem Anlass, verkündet werden.
Einer, der solchen Reden kaum zuhören wird, von dem man sich aber nur zu gerne eine eigene anhören würde, hätte er sie denn geschrieben, ist der Schriftsteller Thomas Hürlimann. Er gehört zu der nicht zu übersehenden Gruppe von Schweizer Autoren und Autorinnen, die ihr Heimatland verlassen wollten oder mussten, um produktiv zu werden, um das leisten zu können, was ihnen vorschwebte. Im Gegensatz zu Paul Nizon, der mit dem «Diskurs in der Enge» 1970 einen fulminanten Befreiungsschlag landete, bevor er die Schweiz Richtung Paris verliess, um nie mehr wiederzukehren, hat sich Hürlimann nach zwanzig Jahren Berlin entschlossen, an den heimatlichen Zugersee zurückzukehren. Eine lebensbedrohende Krankheit war eine der Hauptgründe für den Entschluss.
Der 71-jährige Thomas Hürlimann ist immer ein eigenwilliger, schwer zu fassender Schweizer im Ausland geblieben, ein ganz besonderer Patriot, was sich in allem, was er schrieb und sagte, in Essays, Romanen, Theaterstücken und Interviews niederschlug. Das Weltmännische steht ihm zu, wenn man ihn liest und kennt, seine Fantasie hat keine Grenzen, seine Lust am sprachlichen Experiment ebensowenig. Aber die Enge der Schweiz, auch die von Nizon beschworene kulturelle Engräumigkeit, (um nicht zu sagen Engstirnigkeit) hat ihn nie gestört oder beschäftigt. Nach aussen war es ihm oft wichtig, unser politisches System, unser Verständnis von Demokratie, auch unsere Streitkultur zu erklären und zu verteidigen; nach innen freilich, in dem was er schrieb und schreibt, gibt es gar nichts Enges.
Dem vor einiger Zeit Zurückgekehrten ist die Schweiz fremd, ja sie ist ihm zur Utopie geworden. Was er zwanzig Jahre lang als Bild in sich getragen hat, existiert nicht mehr. «Die Schweizer Zeit gibt es nur noch auf dem Friedhof» sagt er in einem fulminanten Interview, das er am Wochenende der NZZ gegeben hat. In der «Heimkehr», seinem 2018 erschienenen Roman, braucht der Protagonist drei Anläufe, um nach Hause zu gelangen. Im neuen Roman, «Der Rote Diamant», der in diesen Tagen in die Buchhandlungen kommt, soll es sich, wie dem Interview zu entnehmen ist, um eine ganz besondere Zeit handeln, um die Zeit der Kindheit und Jugend, die der Autor als Klosterschüler im Stift Einsiedeln erlebt hat.
Utopie oder Dystopie, Friedhofszeit oder Jugendzeit – man darf gespannt sein, wie der nostalgische Patriot Hürlimann mit der erinnerten Heimat umgeht im neuen Buch.