Zwar liefern die Anhörungen im US-Kongress zahlreiche Indizien für eine Komplizenschaft Donald Trumps beim Sturm auf das Capitol Anfang letzten Jahres. Trotzdem dürfte es schwierig bleiben, dem Ex-Präsidenten kriminelle Absicht zu beweisen. Obwohl Trump eine solche aller Wahrscheinlichkeit nach hatte.
Seit dem Eindringen eines Mobs in das Parlament in Washington D. C. am 6. Januar 2021 (1/6) sind anderthalb Jahre vergangen. 840 Teilnehmende aus fast allen 50 Bundesstaaten sind aufgrund ihrer Präsenz im Capitol verhaftet worden. Unter ihnen sind bisher rund 250 diverser Gewaltdelikate wegen angeklagt worden. In einem Fall aber bleibt offen, ob es zu einer Anklage kommen wird: Hat sich Ex-Präsident Donald Trump, der seine Wahlniederlage 2020 gegen Joe Biden bis heute leugnet, des versuchten Staatstreichs schuldig gemacht?
Die Anhörungen zu 1/6, die derzeit im US-Abgeordnetenhaus publikumswirksam über die Bühne gehen, könnten Hinweise liefern und unter Umständen sogar Klarheit schaffen, auch wenn die Republikaner und rechte Medien alles versuchen, um die Hearings zu diskreditieren. Kein Zweifel, eine Anhörung im Kongress ist kein Prozess, denn es gibt keine Kreuzverhöre und Aussagen der Zeugen bleiben unwidersprochen. Trotzdem, der neunköpfige Ausschuss des Hauses hat während der Vorbereitungen über 1’000 Interviews geführt und mehr als 140’000 Unterlagen gesammelt. Wobei nach zwei von sechs geplanten Hearings unbekannt bleibt, was all die Dokumente noch hergeben. Der Schlussbericht des Gremiums soll im September, d. h. noch vor den Zwischenwahlen zwei Monate später, erscheinen.
Kein Geringerer als Ex-Justizminister Bill Barr hat, wenn auch verspätet, die diversen Versuche des Weissen Hauses, den Ausgang der Präsidentenwahl zu kippen, als «Quatsch» und «Schwachsinn» abgetan. Auch ist bekannt, dass einige republikanische Abgeordnete, die Trumps grosse Lüge stets vorbehaltlos unterstützten, sich nach dem 6. Januar im Weissen Haus nach der Möglichkeit einer Amnestie erkundigt haben, sollten sie eines Tages wegen ihrer Rolle bei der Verbreitung der «Big Lie» angeklagt werden.
Bill Barrs Nachfolger Merrick Garland hält sich trotz teils heftiger Kritik von Demokraten nach wie vor bedeckt. «Wir scheuen keine Fälle, die politisch sind, oder Fälle, die kontrovers oder sensibel sind», lässt der Justizminister verlauten: «Wir vermeiden es aber, Entscheide auf der Basis politischer oder parteipolitischer Beweggründe zu fällen.» Auf jeden Fall ist in der amerikanischen Geschichte noch nie einem amtierenden oder früheren Präsidenten der Prozess gemacht worden.
Trump und Nixons politisches Schicksal
Einem Verfahren und einer Verurteilung am nächsten kam seinerzeit Richard Nixon, der 1974 nach Watergate zurücktrat, um einer Amtsenthebung zuvorzukommen, und von seinem Nachfolger Gerald Ford präventiv begnadigt wurde. Um einer Anklage wegen falscher Zeugenaussage zu entgehen, stimmte Bill Clinton 2001 an seinem letzten Tag im Weissen Haus einer Abmachung zu, die ihn vorübergehend die Anwaltslizenz und eine Busse von 25’000 Dollar kostete. Apropos Nixon: Damals waren selbst die Republikaner im Kongress zur Überzeugung gelangt, ihr Präsident sei für die Nation untragbar geworden.
Sollte es jetzt zu einem Prozess gegen Donald Trump kommen, wäre das Verfahren von einer ganz anderen Grössenordnung als die jetzigen Anhörungen im Repräsentantenhaus. Derweil sind sich frühere Staatsanwälte und erfahrene Juristen noch uneinig, ob die Hearings genügend Indizien oder gar Beweise liefern, um den Ex-Präsidenten wegen Verschwörung zur Begehung von Betrug oder der Behinderung der Arbeit des Kongresses anzuklagen.
«Ein Verbrechen erfordert zwei Dinge – ein Vergehen und einen kriminellen Vorsatz», sagt Neal Katyal, der unter Barack Obama als Generalstaatsanwalt amtierte. Beide Voraussetzungen hält er für erfüllt. Dies aufgrund der Zeugenaussagen von Ex-Justizminister Bill Barr und anderen Personen aus dem Umfeld Donald Trumps, die ihm wiederholt sagten, er habe die Wahl verloren, sowie des Umstands, dass der Ex-Präsident nichts unternahm, um den Sturm auf das Capitol zu stoppen.
Kein Wunder, dass Donald Trumps Anhängerschaft das anders sieht. Sean Hannity, Moderator auf Fox News, nannte die erste Anhörung, die sein Sender nicht einmal übertrug, «den absolut dumpfsten, langweiligsten, überflüssigsten demokratischen Wahlkampfanlass, der sich als Anhörung zu 1/6 verkleidet». Sein Fox-Kollege Tucker Carlson giftelte, die Hearings seien pure Propaganda und es würden lediglich Lügen erzählt: «Wir dagegen werden versuchen, Ihnen die Wahrheit zu sagen.» Ähnlich sahen das die loyalen Fans des Ex-Präsidenten in den sozialen Medien und natürlich Donald Trump selbst.
«Gedanken einer Person lassen sich nicht lesen»
«Der 6. Januar war nicht nur einfach ein Protest, sondern er repräsentierte die grösste Bewegung in der Geschichte unseres Landes, Amerika wieder gross zu machen», schrieb er auf er auf seiner neuen Website «Truth Social». Wozu die Republikanerin Liz Cheney, von ihrer Partei geächtetes Mitglied des Ausschusses und Tochter eines Vize-Präsidenten, bemerkte: «Meinen republikanischen Kollegen, die nach wie vor verteidigen, was sich nicht verteidigen lässt, möchte ich Folgendes sagen: Es wird ein Tag kommen, da Donald Trump nicht mehr da ist, eure Unehre aber bestehen bleiben wird.»
Währenddessen warnt Barbara McQuade, Ex-Bundesanwältin und Professorin an der Rechtsfakultät der University of Michigan, vor zu hohen Erwartungen, dass ein Prozess gegen Donald Trump mit einer Verurteilung enden würde. Vor allem, meint die Juristin, dürfte es schwerfallen, dem Ex-Präsidenten kriminelle Absicht zu beweisen. Zwar habe er einiges Verwerfliches gesagt und getan, aber er könne argumentieren, er sei ehrlich davon überzeugt gewesen, er habe die Wahl gewonnen, und in Wirklichkeit sei er es gewesen, der versucht habe, einen Betrug zu stoppen. Schwierig folglich, in einem Verfahren zwölf Geschworene jenseits aller Zweifel davon zu überzeugen, dass der Ex-Präsident tatsächlich so dachte: «Gedanken einer Person lassen sich nicht lesen.»
Dagegen spricht das Konzept der «willful blindness», der willentlichen Blindheit. Es beinhaltet, dass eine Person die hohe Wahrscheinlichkeit, dass etwas wahr ist, nicht einfach ignorieren kann, nur weil sie wünscht, es wäre nicht wahr. Zwar hätten Donald Trump genügend Leute versichert, es habe keinen Wahlbetrug und auch keine Beweise dafür gegeben, fraglich aber bleibt laut McQuade, ob die Geschworenen das angesichts eines fehlenden Geständnisses auch so sehen und den Ex-Präsidenten schuldig sprechen würden.
Kommt es zu einem Prozess und wird Donald Trump nicht verurteilt, steht seiner erneuten Präsidentschaftskandidatur und seiner allfälligen Wiederwahl 2024 nichts mehr im Wege. Dies umso eher, als sich laut Ross Douthat, dem Kolumnisten der «New York Times», in den USA das Gefühl breit macht, dass am Ende «jeder Dreck am Stecken hat»: sowohl unter Konservativen, die keine eingefleischten Trumpisten sind, als auch unter Wechselwählern, die von Barack Obama zu Donald Trump und von Donald Trump zu Joe Biden gewechselt haben: «Zusammen machen diese beiden Gruppierungen eine Wiederwahl Trumps vorstellbar. Zusammen sind sie jene Amerikanerinnen und Amerikaner, die der Ausschuss davon überzeugen will, dass Trump eine einmalig bösartige Figur ist und dass sein Versuch, eine verfassungsmässige Krise herbeizuführen, Beweis dafür ist, dass der Never Trumpismus für immer recht hat.»