Grösser als Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland und Grossbritannien zusammen, ist Grönland nur gerade an einigen Küstensäumen besiedelt. Und von seinen rund 57’000 Einwohnern leben 98 Prozent an der Westküste. Damit erscheint die praktisch menschenleere Küste Ostgrönlands für Westler, die eine Auszeit nehmen wollen, als idealer Fluchtpunkt. Solche Fluchten sind in den letzten Jahren literarisch mehrfach thematisiert worden und nun also auch in einem Film des Franzosen Samuel Collardey. Als hybrid könnte man das fabelhaft gefilmte Werk bezeichnen, weil es sich nicht um die Unterscheidung zwischen fiktional und dokumentarisch kümmert – beziehungsweise damit spielt.
Der französische Filmemacher Samuel Collardey hat sich für Une année polaire durch den Roman Imaqa („Vielleicht“, 1999) des Dänen Flemming Jensen inspirieren lassen. Bereits 1997 ist Klaus Böldls kluger Roman einer Entfremdung Studie in Kristallbildung erschienen. Eine Art Gegenstück dazu war dann Kim Leines vollsaftiger Die Untreue der Grönländer, der im dänischen Original freilich schlicht Tunu (2009) heisst, „Rückseite“; der Name des seinerzeitigen Verwaltungsbezirks Ostgrönlands bedeutet soviel wie „Rücken des Landes“. Schon sein Erstling, Kalak (2007) – was sich gemäss Leine, der fünfzehn Jahre in Grönland gelebt hat, gleicherweise mit „echter Grönländer“ wie mit „verdammter Idiot“ übersetzen liesse –, handelte von einer Flucht nach Grönland.
Abenteuerlust
Ein Jahr, sagt sich Anders zu Beginn des Films, das müsste doch zu machen sein als Dänischlehrer in Grönland, auch wenn er weder das Land kennt noch über richtige Berufserfahrung verfügt. Da seine Bewerbung überzeugt hat, darf er auswählen unter den drei offenen Stellen. Wie es sich für einen abenteuerlustigen jungen Mann gehört, wählt er den kleinsten und abgelegensten Ort. Als er aber gegenüber der Vorgesetzten in Kopenhagen erwähnt, dass er vorhabe, seinerseits Grönländisch zu lernen, wird sie dezidiert. Ziel müsse einzig sein, dass die Kinder Dänisch lernten, alles andere wäre kontraproduktiv. Sie habe zehn Jahre lang in Grönland unterrichtet und spreche kein Wort der Sprache. (In einer ersten Drehbuchversion hatte Collardey seinen Protagonisten zu Hause Grönländisch lernen lassen – nur um ihn erkennen zu lassen, dass Westgrönländisch in Ostgrönland nichts nützt.)
Dass es kein Zuckerschlecken sein wird, wird Anders bald klar nach der Ankunft in Tiniteqilaaq am Sermilikfjord, einem Ort von hundert Seelen an der abgelegenen Ostküste der Rieseninsel. Nach langer Fahrt im offenen Motorboot ist er durch eine Zauberwelt aus Eis und Licht dorthin gelangt. Doch in der Schule denken die Kinder ja gar nicht daran, auch nur entfernt so etwas wie Ordnung aufkommen zu lassen, die Erwachsenen bleiben distanziert, und als der Winter kommt, sitzt Anders bald einmal frierend und allein in seinem kleinen Haus, zu dem er das Wasser in Kanistern hochschleppen muss.
Das könnte alles Spielfilm sein, und in der Tat besitzt Une année polaire klar fiktionale Elemente: Ein Grossvater muss „sterben“, Konfliktsituationen wirken wiederholt etwas inszeniert. Zugleich aber wird zunehmend deutlich, dass dieser Anders Hvidegaard tatsächlich so heisst, dass er wirklich der Sohn dieses dänischen Bauern ist, den wir sehen, wie er seinen Hof in achter Generation bewirtschaftet – und entsprechend von Anders erwartet, dass er die Tradition fortführt. Anders hingegen, von umgänglichem, offenem Wesen, kommt den Grönländern immer näher, auch wenn der Film die Schule darüber zu vergessen scheint; gerade einmal noch sind wir im Klassenzimmer: als Anders den Jäger Tobias Ignatiussen von seinen Erlebnissen erzählen lässt, denen die Kinder nun aufmerksam folgen.
Die weissen und die gelben Untertitel
Katalysator der Veränderung ist Julius, Repräsentant der Gemeinde. Und gemäss Aussagen des Regisseurs war es dieser Julius B. Nielsen, den wir als höchst einnehmende Erscheinung kennenlernen, der die Realisierung des Films zusammen mit den Einheimischen überhaupt erst möglich werden liess, weil er als einziger auch Englisch spricht. Dennoch bleibt erstaunlich, wie Samuel Collardey – 1975 in Besançon geboren und noch immer in der Franche-Comté lebend –, der (nachvollziehbarerweise) nicht nur kein Grönländisch spricht, sondern nicht einmal Dänisch, seinen Film mit derartiger Aufmerksamkeit fürs Sprachliche zu gestalten vermochte. In der Kinofassung sind die Untertitel fürs Dänische weiss, während das Grönländische gelb erscheint; gegen das Ende hin hat man das Gefühl, als ob die Untertitel fast nur noch gelb seien. Da wird dann auch dieses eine „Polarjahr“ bereits vorbei sein, zu dem Anders seinerzeit „2016“ auf die Wandtafel geschrieben hat und in dem auch Königin Margrethe II., das Staatsoberhaupt Dänemarks, der Färöer und Grönlands, am Silvesterabend 2016 mit der Neujahrsansprache zu sehen ist. Wie der Regisseur dieses Jahr in einem Interview sagte, ist Anders inzwischen geschätzter Lehrer in Tiniteqilaaq, lebt mit einer Grönländerin zusammen, und auf Hof Hvidegaard kann man sich über einen Enkel freuen.
Die Schattenseiten des Lebens der Ureinwohner, den grassierenden Alkoholismus, zerrüttete Familien, Suizide – von denen Collardey selbstverständlich weiss – deutet der Film nur diskret an. Auch wenn die kleine Ortschaft nur im vorteilhaftesten Licht gezeigt wird, hat das nichts mit Schönmalerei zu tun. Wichtiger erscheint hier das Leben in einer grandiosen, erbarmungslosen Natur, die selbstbestimmte Existenz als Jäger. Man erhält auch zumindest eine Ahnung davon, was ein „piteraq“ ist, zumal im Winter, dieser mit ungeheurer Wucht von den Hochgebirgskämmen des Inlandeises herniederstürzende Fallwind. (Der Schreibende erinnert sich, wie der Kapitän das Schiff, das am Abend noch in der geschützten Bucht von Tasiilaq lag, dem südlich von Tiniteqilaaq gelegenen Hauptort der Ostküste, in der Nacht aufs Meer hinaus steuerte, wo der tobende Sturm am nächsten Morgen bei strahlendem Sonnenschein keine einzige Welle mehr ans Ufer gelangen liess.) Robben werden zerlegt, eine auch zu Hause, auf dem Küchenboden, ein Eisbärenfell kündet von erfolgreicher Jagd, und als einmal die Hunde draussen vor dem Iglu wie verrückt anschlagen, sehen die Mitglieder der Jagdexpedition in unmittelbarer Nähe ihres Nachtlagers eine Bärin mit zwei Jungen. Man beäugt sich wechselseitig und zieht seiner Wege.
Nicht nur wegen der inhaltlichen Parallelen zu Nanook of the North (1922) ist Collardeys Docu-Fiction Robert J. Flaherty hier so nah wie wohl keine der Produktionen der letzten Jahre. Sie vermessen die Grenzlinien zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktionalen neu. Die Nähe zu Asser Boassen, dem Bub, dem das Interesse des Films zunehmend gilt, wird ebenso evident wie die phantastische Weite der Landschaft. Wie Collardey, auch mehrfach ausgezeichneter Kameramann, sagt, hat er die Panoramaaufnahmen von Hand gedreht: mit der Drohne, deren Gyroskop für die Stabilisierung sorgte. Und wenn die Drohne dann aufsteigt über dem Pulk der Schlitten und zeigt, wie sich Hunde und Männer im tiefen Schnee einen unmenschlich steilen Hügel hochkämpfen, dann ist es, als seien die Malereien Emanuel A. Petersens und Rockwell Kents aus den zwanziger und dreissiger Jahren zum Leben erwacht.
Der besprochene Film startet am 13. Dezember in den Deutschschweizer Kinos.