Mehr als zwei Drittel der Jungen wollen den Urnen fernbleiben. Ali Sadrzadeh hat mit einigen von ihnen gesprochen.
صبح صادق-, der „Wahre Morgen“: So heisst eine philosophisch-politische Wochenzeitschrift der iranischen Revolutionsgarden. Die Garde ist ja bekanntlich auch ein Medienimperium, das nicht nur die Medienlandschaft des Iran beherrscht, sondern in zehn weiteren Sprachen und allen Formaten für die übrige Welt Medienerzeugnisse produziert.
Dass diese omnipräsente Armee ihr theoretisches Organ „Wahrer Morgen“ nennt, hat nicht nur mit der Vieldeutigkeit dieses Begriffs zu tun. Es zeigt auch den Totalanspruch der Garden: Ein echter Muslim muss den wahren Morgen unbedingt erkennen können, denn sowohl beim täglichen Frühgebet wie auch beim Fastenbeginn im Ramadan ist es zwingend nötig, den echten Tagesbeginn vom falschen zu unterscheiden. Religiös gesehen ist der „Wahre Morgen“ also ein fester Begriff.
Da auch im alltäglichen Leben stets Irreführung drohe, fühlen sich die Herausgeber des „Wahren Morgens“ Klarheit und Konkretheit verpflichtet: So steht es jedenfalls im Impressum der Zeitschrift. Und in der Tat bemühen sich die Autoren oft um eine direkte und klare Sprache; sie vermeiden die übliche Propaganda und nennen sogar die Probleme des Landes offen beim Namen.
Die verlorenen Kinder
Ein kurzer Leitartikel, den die Zeitschrift am 7. März veröffentlichte, war sogar so spektakulär offen, dass er in diesen Tagen kurz vor der Präsidentenwahl immer noch für Aufregung sorgt. „Generation Z und die Zukunft des Irans“ lautete seine Überschrift.
In seinen ersten Zeilen liest man eine knappe, nüchterne Information, jedoch verbunden mit Sorgen: Unter „Generation Z“ verstünden amerikanische Soziologen die zwischen Mitte der 1990er Jahre und 2015 Geborenen. Diese Jahrgänge seien internetaffin und pluralistisch, sie interessierten sich mehr für Klimaveränderung und Menschenrechte als für Parteipolitik. Die US-Wissenschaftler seien in Sorge, denn die Zukunft Amerikas hänge von dieser Generation ab. Kurz, informativ und tendenziös – so der Blick ins Feindesland.
Dann kehrt der Autor nach Hause zurück und stellt fest: Im Iran habe man sich kaum mit dieser Generation beschäftigt und teile die Geburtenjahrgänge nach Dekaden. Das Führen und die Kontrolle derjenigen, die in den ersten zwanzig Jahren nach der Revolution geboren wurden, sei zwar schwierig, aber machbar gewesen. Doch die Generation Z – die heute Zwanzig- bis Dreissigjährigen – sei nicht mehr kontrollierbar: Man nenne sie die Protestgeneration.
Und die Gründe dafür seien sattsam bekannt:
- Sie wüchsen als Einzelkinder oder höchstens mit einem Geschwisterkind auf.
- Sie befänden sich mental und geistig in einer anderen Welt.
- Sie seien die meiste Zeit in den sozialen Netzwerken unterwegs, die vom Feind im Westen kontrolliert würden.
- Sie interessierten sich nicht für die im Iran gängigen politischen Kategorien wie „Prinzipientreue“ oder „Reformer“.
- Sie seien pluralistisch eingestellt.
Kurzum: Sie hätten sich zu einer Bedrohung für die politische, kulturelle und sogar die religiöse Ordnung des Landes entwickelt. Und die rapide Technologieentwicklung vergrössere praktisch sekündlich den Graben zwischen den Generationen, denn diese Jugend mache die Älteren für ihre Misere verantwortlich. Sie könnte eines Tages zu Taten schreiten, die das gesamte System aus den Angeln heben. „Vergessen wir nicht, dass diese Generation ihre überwiegende Zeit in jenen sozialen Netzwerken verbringt, die der amerikanische Feind produziert!“: Mit dieser erhellenden Warnung endet der Leitartikel des „Wahren Morgens“.
Fast drei Monate sind seit dem Erscheinen dieses Textes vergangen. Seitdem haben sich Dutzende Soziologen, etliche Prediger, zahlreiche TV-Talkshows und Hunderte Journalisten die Generation Z vorgenommen. Und bei allen geht es auch darum, ob diese Generation überhaupt an die bevorstehende Präsidentenwahl denke. Eine wichtige, für die islamische Republik lebenswichtige Frage, denn die Hälfte der über 80 Millionen Iraner und Iranerinnebn sind unter dreissig, gehören also zur „Generation Z“.
Mit einigen von ihnen hat das Iran Journal deshalb über die Präsidentenwahl gesprochen.
Eine Café-Besitzerin
Zunächst entschuldigt sie sich, es sei ihr peinlich, dass sie den Interviewtermin am Vortag verpasst habe. Doch dafür könne sie nichts: Die „üblichen Scherereien“ mit der Polizei seien der Grund gewesen. Wieder sei es um ihr Café, die Bekleidung der Frauen, die dort verkehrten, und sonstige „Unsitten“ an diesem Ort gegangen. Ob sie trotzdem nun bereit sei, offen und ohne Angst über die Jugend und die bevorstehende Präsidentenwahl zu reden, darüber, was die Besucher und Besucherinnen ihres Cafés dächten? Was für eine Frage, antwortet die junge Frau: Sie habe sich doch extra auf ein solches Gespräch vorbereitet und sich dafür viel Zeit genommen! Ausserdem sei die Zeit der Angst längst vorbei: „Wir sagen, was wir denken, auch in einem Telefonat mit dem Ausland.“ Und fügt gleich hinzu: „Diese Jugendlichen sind in einer anderen Welt. Ihr Leben, ihr Denken und ihre Hoffnungen haben mit ihrer Umwelt nichts gemein. Sie haben das Politische längst umdefiniert.“
Diese junge Frau, die so über die Jugend urteilt und darauf beharrt, selbst mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen, ist fast so alt wie Ali Khameneis Führerschaft. Sie war im Kindergarten, als er 1989 zum Revolutionsführer der Islamischen Republik ernannt wurde. Generationenbrüche in der Islamischen Republik seien eben sehr kompliziert und vielfältig, sie liessen sich nicht in einer einzigen oder gar einfachen Feststellung zusammenfassen, sagt sie und klingt dabei beinahe hilf- und ratlos. „In einer Welt, in der du ständig jedem, im Privaten ebenso wie in der Öffentlichkeit, über deine Kleidung, dein Aussehen und dein Verhalten Rechenschaft ablegen muss, in einer solchen Welt kannst du nur abschalten.“
Ihre eigene Geschichte ist eine Erzählung über eine Kindheit in einer kleinen Stadt im Westiran, die immer noch vom achtjährigen Krieg mit dem Irak gezeichnet ist. Die irakische Grenze ist viel näher als die weit entfernte Hauptstadt Teheran. Wie unter einem Brennglas sieht man hier die soziale und wirtschaftliche Misere des gesamten Iran. Die offizielle Zahl der Arbeitslosen rangiert irgendwo bei 40 Prozent, wohlgemerkt offiziell. Beim Drogenmissbrauch besetzt der Ort einen oberen Rang in der Statistik. Eine traurige Stimmung habe die Stadt voll im Griff, die Mehrheit der Jugend sehe keine Perspektive, das könnten sogar die offiziellen Medien nicht mehr verschweigen.
Und: „Keine, überhaupt keine Rolle spielt für diese Jugendlichen die bevorstehende Wahl.“ Ihnen sei egal, wer sich in Teheran Präsident nenne. Wie das neue iPhone-Modell aussieht sei tausendmal interessanter, als wer gerade Präsident geworden ist.
Die Brutalität des Realen
Diese „sie“ sind die berühmte Generation Z. Und unüberhörbar ist das Bedauern dieser ehemaligen Managerin, wenn sie von der Gleichgültigkeit dieser „Jungen“ spricht, von denen manche fast so alt sind wie sie selbst. Sie mag sie trotzdem, sie versteht sie, denn sie hat jeden Tag mit ihnen zu tun: Sie steht ihnen bei.
Die Brutalität des Realen prägt auch ihre eigene Biographie. Die Kämpfe, die sie privat und öffentlich durchstehen musste, haben sie zu einer Reife gebracht, die sie nun mit der Generation Z teilen will. Nach einer Karriere bei verschiedenen Start-up-Unternehmen in Teheran ist sie in ihre alte Heimat zurückgekehrt. Und sie hat es geschafft, mit ihrem Café in dieser entlegenen Gegend einen Ort zu kreieren, wo diese perspektivlose Jugend relativ frei plaudern kann.
Wahlen? Welche Wahlen?
2009, das Jahr der so genannten Grünen Bewegung, ist ein Wendepunkt im Iran. „Es war das Jahr der politischen Reife, wir Aktivistinnen und Aktivisten gingen damals durch die Schule der brutalen Realität“, sagt die Cafébesitzerin. Die erbarmungslose Niederschlagung der Massenprotestbewegung nach der Wiederwahl von Präsident Mahmoud Ahmadinedschad sei ein blutiges Zeichen für die Reformunfähigkeit der Islamischen Republik gewesen. „Die Illusion der Wahlen löste sich für viele in Luft auf.“: Besucher ihres Cafés hätten nur Hohn und Spott übrig, wenn jemand über Wahlen oder Politik rede.
Die Zeit einer Wahl sei die Zeit zwischen „Schlimmen und Schlimmeren“ – und immer wollte man das Schlimmste verhindern. Selbst dieses Spiel sei aber nun vorbei: „Diesmal hat man es uns sehr leicht gemacht“, diesmal stünden nur die ganz Schlimmen zur Wahl, sagt sie und nennt mit Verachtung die Namen einiger Kandidaten. „Wahlen ändern nichts, das sagt inzwischen selbst die Mehrheit der Erwachsenen! Was erwartet man denn dann von dieser perspektivlosen Jugend?“
Sie wohnt nahe dem Ort, an dem wöchentlich die Freitagsgebete stattfinden, die im Iran in Wahrheit landesweit und generalstabsmässig organisierte politische Veranstaltungen sind. Wie viele Menschen kommen wöchentlich zum Gebet? „Zwischen 100 und 150, hauptsächlich alte Leute, und die wenigen jungen, die da zu sehen sind, gehören den Machtorganen wie den Basidjis, den paramilitärische Einheiten, an.“
Der besondere Banker
B. ist Banker, Ende dreissig, dynamisch und gut informiert über alles, was sich im Iran, in Europa und den USA ereignet. Er ist ein besonderer Banker, wie es ihn nur in der Islamischen Republik geben kann. B. hat eigentlich Hochbau studiert, hauptberuflich arbeitet er in der südiranischen Stadt Kerman in einem Architektenbüro, das ausschliesslich Projekte der Revolutionsgarden ausführt. Doch sein Gehalt reicht für seine vierköpfige Familie nicht aus. Deshalb betreibt er nebenbei eine „Bank“ in einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Kerman. B. ist, wie alle in seiner Generation, sehr internetaffin, und diese Affinität war es, die ihn zu seiner „Bank“ brachte. Sie besteht aus einem Geldautomaten, der via Internet mit der Zentrale in Teheran verbunden ist. Allwöchentlich holt B. einen Teil seiner eigenen Ersparnisse von einer richtigen Bank ab, fährt vierzig Kilometer weiter und füllt damit den Geldautomaten auf. Am Monatsende bekommt er Prozente von der „Mutterbank“, die ebenfalls den Revolutionsgarden gehört. So gesehen ist B. ein Superbanker, denn in der Realität verleiht er Geld der Grossbank in Teheran – besser gesagt: der Revolutionsgarden.
B. ist ein Grenzgänger. Im geschäftlichen Leben hat er zwar mit den Revolutionsgarden zu tun, mental trennen ihn aber Welten von diesen. Nur einmal habe er in seinem Leben gewählt, das war 2009, während der grünen Bewegung, und das habe ihm vollkommen gereicht. Ein Präsident habe im Iran so viel Macht wie ein Servierer in einem Teehaus, das einem anderen gehöre, sagt B. und betont: Diese Allegorie stamme nicht von ihm, sondern von Ex-Präsident Mohammad Chatami.
Ob alle seine Freunde und Bekannten so dächten wie er? Und was bedeute das für die kommende Wahl? Ja, sagt B., er kenne keinen, der irgendeine Hoffnung mit dieser Wahl verbinde. Dass die überwiegende Mehrheit der Jugend diesmal den Urnen fernbleiben wolle, wüssten selbst die Mächtigen, fügt er hinzu: Die Zeiten, in denen die Machthaber ihre Macht auf den Strassen und an den Urnen zeigten, seien vorbei. „Meine Generation hat einen Personalausweis der Islamischen Republik, lebt aber auf einem anderen Planeten.“
Die Ärztin: Corona klärte sie auf
Mina ist Internistin. Die 29-Jährige war einst eine glühende Anhängerin der Islamischen Republik: So wollte es der Vater und so wurde sie. Doch auch der Vater machte irgendwann eine Kehrtwende. Und das war nicht die erste in seinem Leben. Während der Schah-Zeit hatte sich der Volkswirt modern gegeben, er war ein Lebemann, der das westlich geprägte Leben in vollen Zügen genoss, Alkohol inklusive. Doch nach der islamischen Revolution frömmelte er plötzlich bis zur Unkenntlichkeit. Er verabschiedete sich von der Arbeit in der Wirtschaft und diente als Schuhaufpasser am Portal des heiligen Schreins von Imam Reza in Maschhad. Jetzt sei er Rentner und könne nicht sagen, wann genau und warum seine neue Kehrtwende eintrat, sagt Mina. Jedenfalls verachte der alte Mann heute die Mullahs.
Doch die Kehrtwende der Tochter, die als Ärztin in einem Krankenhaus arbeitet, wird nachvollziehbar, wenn sie von ihrem Berufsalltag erzählt. Anlässe und Beispiele gibt es unzählige und sie sind zum grossen Teil unerträglich. Der letzte Tropfen für ihre überschäumende Wut war die Coronapolitik der Regierung. Schon zu Beginn der Pandemie habe die Sicherheitsabteilung des Krankenhauses dem gesamten Personal untersagt, irgendeine Information über die Anzahl der Infizierten oder Toten weiterzugeben.
In Rage gerät Mina, wenn sie über das Verbot der Einfuhr von Impfstoffen redet. Erst habe man monatelang die Existenz des Virus im Land geleugnet, und als man dann erkannt habe, dass es so nicht weitergehe und Impfstoff aus dem Ausland gebraucht werde, habe Revolutionsführer Ali Khamenei den Import der amerikanischen und britischen Vakzine einfach verboten. Verzweifelt habe sie „alles hinschmeissen“ wollen.
Das Gespräch über ihre Berufserlebnisse, ihre Coronapatienten, ihre infizierten und verstorbenen Kollegen ist so traurig und bewegend, dass es deplatziert, ja weltfremd klingen würde, wollte man auch noch über die bevorstehende Präsidentenwahl reden. Wenn der mächtigste Mann des Landes selbst über den Import von Impfstoffen entscheide, was suche dann ein Präsident in diesem Land, so Minas kurze Bemerkung, als das Wort Wahlen dennoch fällt.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal