Die Musik verstummt für einmal auf allen Radiosendern. Das knisternde Surren der qualitativ schlechten Live-Übertragung via Radio und Fernsehen füllt die Stille.
Die Bevölkerung muss aufwachen
Die Bevölkerung müsse aufwachen, so Martelly in seiner Antrittsrede am Samstag vor dem Volk, und den Wiederaufbau des Landes selber vorantreiben anstatt auf die Hilfe anderer zu warten. „Ayiti toujou! Ayiti chéri!“ beendet er seine Ansprache auf Kreolisch. Die gegen den Zaun des Präsidentenpalastes gepresste Menschenmasse klatscht. „Tèt kale!“ Tosender Jubel.
„Tèt kale“ [sprich: tête calée], Glatzkopf auf kreolisch, ist der Spitzname des haarlosen Politikers und nun 56. Präsidenten Haitis Michel Joseph Martelly, 50, der unter dem Künstlernamen „Sweet Micky“ bereits vor seiner politischen Karriere selbsternannter président du compas, des Haitianischen Musikstils war. Im März gewann er die Präsidentschaftswahl - nicht obwohl er politisch unerfahren ist, sondern gerade weil er ein Aussenseiter war.
Im Gegensatz zur amtierenden Regierungspartei, welche die erste Wahlrunde im vergangen Dezember schamlos zugunsten ihres Kandidaten zu manipulieren versuchte und dabei scheiterte, verkörpert Martelly den politischen Neuanfang. In der Stichwahl hatte Mirlande Manigat, eine etwas steif wirkende Professorin für Verfassungsrecht und Frau des vorletzten Präsidenten, gegen die kommunikativen Fähigkeiten des ehemaligen Musikers keine Chance. Martelly setzte sich gegen sie mit zwei Drittelmehrheit klar durch.
Beim Amtseid fällt der Strom aus
Der Ablauf seiner Vereidigung spiegelt den Zustand des Landes. Noch am Vorabend scheint in Port-au-Prince niemand das Programm der Zeremonie zu kennen, es wird spekuliert. Stattdessen kursieren Gerüchte um im Internet veröffentlichte Fotos eines angeblichen amerikanischen Passes Martellys, welcher ihn von der Präsidentschaft disqualifizieren würde. Eine haitianische Version der amerikanischen „birther“-Bewegung scheint seinen Amtsantritt sabotieren zu wollen, obwohl das Parlament nur eine Woche zuvor das Verbot der Doppelbürgerschaft aufgehoben hat (die entsprechende Verfassungsänderung ist noch nicht in Kraft getreten).
Am großen Tag fällt in der Fertigbaustruktur, wo das haitianische Parlament seit dem katastrophalen Erdbeben provisorisch untergebracht ist, der Strom genau in dem Moment aus, als Martelly seinen Eid ablegen soll. Er tut es im Dunkeln, die geladenen Würdenträger, darunter der Präsident des dominikanischen Nachbarstaates, der UNO Sondergesandte für Haiti Bill Clinton und der französische Außenminister Alain Juppé, wedeln sich bei defekter Klimaanlage Luft zu.
Sieg bei 25 Prozent Wahlbeteiligung
Da auch die Kathedrale von Port-au-Prince seit dem Erdbeben nicht mehr zur Verfügung steht, spricht der Erzbischof von Haiti auf der vor dem völlig zerstörtPräsidentenpalast errichteten Bühne seinen Segen. Als Martelly endlich selber zu en Wort kommt, begrüsst er formell auf Französisch die anwesenden Ehrengäste und spricht dann mit kraftvoller Stimme auf Kreolisch zu seinem Volk über die gemeinsame Aufgabe. Auf Englisch wendet er sich an die internationale Gemeinschaft: „The new Haiti is open for business now!“
Auch wenn zwei von drei Wählern Martelly unterstützt haben, hat er bei einer Wahlbeteiligung von ca. 25 Prozent – zu der allerdings auch technische Pannen beigetragen haben – lediglich die aktive Unterstützung von einem Sechstel der knapp 10 Millionen Haitianer. Und nun soll der politische Novize das ärmste Land der westlichen Welt zu einer besseren Entwicklung führen.
An seinem ersten Amtstag scheinen sich alle einig zu sein, dass der neue Präsident in seiner Rede die richtigen Prioritäten gesetzt habe. Sowieso findet man an diesem Tag kaum jemanden, der nicht für Martelly gestimmt haben will. Fragen zu Martellys Eignung, das Land zu führen, werden heute weggewischt: Keine Erfahrung? Das hatten die bisherigen doch auch nicht. Seine Stärken? Er sei streng genug um endlich einen neuen Führungsstil durchsetzen können.
Anders als alle Vorgänger?
Gerade junge Leute sprechen enthusiastisch von einem Bruch mit der politischen Vergangenheit. Alle bisherigen – ob Papa Doc, Baby Doc, Aristide, oder Préval – stehen für Kleptokratie und Amtsmissbrauch einer privilegierten Klasse. Michel Martelly ist dagegen für viele Haitianer ganz einfach einer von ihnen. Seine musikalische Vergangenheit, zu der auch geschmacklich diskutable Auftritte gehören, wird ihm in Haiti nicht angelastet.
Mit dem Ende der Antrittsansprache vor dem palais national beginnt an diesem Tag sogleich das Fest in der Hauptstadt. In Port-au-Prince wurden Wände, Trottoirs und Straßenlaternen zur Feier des Tages rosa und weiß gestrichen, den Farben Martellys während des Wahlkampfes. Lärmend ziehen Musikgruppen durch die Strassen. Michel Martelly ist jetzt nicht mehr Musiker sondern der Glatzkopf, und der ist der neue „prézidan“. Für eine Disco im Nobelviertel Pétionville ist dies Anlass genug, um noch selben abends den „soirée retro Sweet Micky “ zu feiern.