Die Tage zwischen den Jahren verweigern sich beharrlich dem Alltäglichen und damit auch der Eile. Manches geht gemächlicher; viele sind gar zu Fuss unterwegs. Fragmentarische Ge[h]danken über diese Zwischenzeit hinaus.
Die Zeit vor Weihnachten ist erfahrungsgemäss dicht und gedrängt – und wohl nicht nur sie. «Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt läuft die Zeit; wir laufen mit», meinte Wilhelm Busch in einer Zeit, als sie noch nicht so intensiv wie heute dem Diktat des Tempos unterstand und Non-Stopp-Rasanz nicht ihr Merkmal war. «Le temps mange la vie», seufzte der sensible Lyriker Charles Baudelaire. Und das schon vor vielen Jahren. Eile und Drang machen zu schaffen. Da wirkt die Zeit zwischen Weihnachten und Berchtoldstag mit ihrem beruhigenden Andante wie ein wohltuender Kontrast. Und wem diese Tage noch immer zu gedrängt sind, den tröstet Karl Valentin: «Nach der stillen Zeit wird es dann etwas ruhiger.»
«Nur die ergangenen Gedanken haben Wert»
Es verwundert nicht, dass viele Menschen Ruhe und Einkehr suchen. Oft auf Wallfahrten, der wohl ältesten Form des touristischen Reisens. Das [Fern-]Wandern boomt. Weit über 300’000 Pilger erreichen auf dem Jakobsweg Jahr für Jahr Santiago de Compostela. Manche spüren intuitiv: Der Geist geht zu Fuss, und er kann nicht immer auf Schnellstrassen unterwegs sein. Und noch etwas empfinden sie vielleicht: Gehen belebt. Darum ginge wohl vieles besser, wenn man mehr ginge.
Auch der Philosoph Friedrich Nietzsche ist stundenlang gewandert. Viele seiner Ideen kamen ihm beim Gehen an den Engadiner Seen. Migrantes Denken sozusagen – die griechischen Peripatetiker. Hier oben, wo Finnland und Italien zusammenkommen, notierte er: «Alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden. Das Sitzfleisch [ist] die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.» Darum lautete sein Rat: «So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.»[1]
Der zusammengedrückte Bauch verrät sich
Der Philosoph Nietzsche hat den Eiligen wie den Stubenhockern schon damals zugeflüstert: «Nur die ergangenen Gedanken haben Wert.» Er, der Peripatetiker, wusste: «Das geklemmte Eingeweide verrät sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verrät.»[2]
Ob sich sein Hinweis auf die schwer verständlichen Schreiben aus den Amtsstuben bezogen hat, wissen wir nicht. Doch eines hat Nietzsche deutlich werden lassen: «Oh wie rasch errathen wir’s, wie Einer auf seine Gedanken gekommen ist, ob sitzend, vor dem Tintenfass, mit zusammengedrücktem Bauche, den Kopf über das Papier gebeugt: oh wie rasch sind wir auch mit seinem Buche fertig!»
«Mein Kopf geht nur mit meinen Füssen»
Nicht so schnell «fertig» sind wir bei vielen Goethe-Texten. Auch er war viel unterwegs, in Deutschland oft mit der Kutsche – etwa im 10- bis 15-Stunden-Kilometer-Tempo –, in der Schweiz teilweise mit einem Miet-Pferd oder einem Maultier, meist aber zu Fuss. Auf seinen drei berühmten Schweizer Reisen von 1775, 1779 und 1797 hat er unser Land im wahrsten Sinne des Wortes «ergangen». Darum sind seine Gedanken eben Ge[h]danken. «Mein Kopf geht nur mit meinen Füssen», soll Rousseau gesagt haben. Und zu Fuss hält auch die Seele Schritt.
Der Kopf braucht Bodenkontakt; den bekommt er durch die Füsse. Vielleicht erfahren wir darum die Welt intensiver, wenn wir das Geistige mit den Sinnen durchdringen. Wenn wir sie ergehen. Gehen war schon immer mit Erforschen, Erfahren, Erkunden verbunden. Neue Perspektiven, veränderte Weltsichten.
Geniale Ideen brauchen einen «Überschuss an Muskelkraft»
Es erstaunt, wie viele Einsichten Goethe auf seinen Fussreisen gewonnen hat, wie viele Sichten er wahrgenommen, was er in sich aufgenommen und nach Stunden aufgeschrieben hat – oder diktiert. Dazu brauchte Goethe eines: Dem Denken Raum geben und Raum für Gedanken finden, dies als Ergebnis des Gehens und vergnügter Langsamkeit. Später hat er dann mit der Industrialisierung die «veloziferische – die teuflische – Beschleunigung» erlebt und in den «Wahlverwandtschaften» dagegen angeschrieben.
Manche Gedanken und Geistesblitze kamen Goethe beim Gehen im Freien – wie so vielen andern auch. Und wer regelmässig Sport treibt, den kann der Wert des Gehens für die Denkarbeit nicht erstaunen. Dazu nochmals Nietzsche: «Beethoven componierte gehend. Alle genialen Augenblicke sind von einem Überschuss an Muskelkraft begleitet.»[3] Ein wenig mehr gehen: vielleicht so etwas wie ein Neujahrsvorsatz fürs 2023.
[1] Friedrich Nietzsche (2000), Langsame Curen. Ansichten zur Kunst der Gesundheit. Hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, S. 47.
[2] Friedrich Nietzsche (2012), Die Kunst der Gesundheit. Hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung. Freiburg/München: Verlag Karl Alber, S. 46.
[3] Ebda, S. 47.