Kaum ein Tag vergeht, ohne dass in Teheran der oberste geistliche und politische Führer Irans Sätze äussert wie «Wir warnen Israel davor, die rote Linie zu überschreiten.» Oder: «Das ist nicht ein Krieg zwischen Gaza und Israel – es ist ein Krieg zwischen Gut und Böse, zwischen Glauben und Arroganz.» Was bei der Regierung Israels, aber auch bei westlichen Regierungen, immer von Neuem die Alarmglocken läuten lässt: Ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Iran mit eigenem Militär in den Konflikt eingreift?
Iran und Israel sind Feinde – allerdings erst seit 1979, also seit der Rückkehr von Ayatollah Khomeini aus dem Exil und dem Sturz des Schah-Regimes. Dass Schah Reza Pahlevi (Herrscher seit 1941) sich mit Israel immer gut verstand, war dem düsteren Khomeini aber schon in früher Zeit ein Dorn im Auge – er wetterte in seinen Predigten schon in den sechziger Jahren aus seinem damaligen Exil, im Irak, der Schah sei ein «verkappter Jude», ein «Befehlsempfänger Israels».
Der Schah und Israel
Tatsächlich vertraute der Schah dem israelischen Geheimdienst mehr als dem eigenen und verstärkte personell die gefürchteten Einheiten von Savak durch zahlreiche Israeli. Wie intensiv die Durchdringung von Savak durch Israeli tatsächlich war, blieb geheim. Aber in der Bevölkerung Irans setzte sich mehr und mehr die Überzeugung durch, dass tausende, vielleicht zehntausende Schah-Gegner durch die Schuld der Israeli in den Kerkern landeten und dort zu Tode gefoltert wurden.
Als Khomeini, zurück in Teheran, 1979 damit begann, sein Konzept der Islamischen Republik zu verwirklichen, nahm er Israel sowohl aus religiösen als auch regionalpolitischen Gründen ins Visier. Religiös: Er wollte nicht akzeptieren, dass die dem Islam heiligen Stätten in Jerusalem unter der Kontrolle von «Ungläubigen» waren. Die israelischen Politiker anderseits betrachtete er als Feinde, weil sie seit 1978 einen Teil des Südens Libanons besetzt hielten und weil die Mehrheit der dort lebenden Libanesen Zwölfer-Schiiten sind, also der gleichen religiösen Richtung angehören wie die Iraner.
War Khomeini ein Antisemit? Er sprach in seinen Predigten oft pauschal von «den Juden». Er respektive seine Entourage rühmte sich anderseits ihrer Toleranz – es gibt tatsächlich noch (geschätzt) etwa 10’000 Juden in Iran, und ihre Religion, ihr Glaube ist offiziell anerkannt und garantiert ihnen zwei Sitze im (machtlosen) Parlament. Die Regierenden in Teheran betonen auch gerne, dass ihre Politik zwar «anti-zionistisch» sei (in dem Sinn, als sie Israel nicht anerkennen), aber nicht gegen Juden gerichtet.
Skepsis in Israel
In Israel findet das wenig positives Echo – da wird immer wieder auf den früheren iranischen Präsidenten Ahmadinejad hingewiesen und auf Worte des Inhalts, die Juden müssten ins Meer getrieben werden. Was Ahmadinejad übrigens wörtlich nie so gesagt hat (das Persische ergeht sich gerne in wohltönenden Konjunktiv-Umschreibungen …), aber er verhinderte nicht, dass untere Chargen in seinem Machtapparat solche Sätze aussprachen. Aus israelischer Perspektive jedoch bot Ahmadinejad den ultimativen Beweis für seinen Antisemitismus mit der Einberufung einer Holocaust-Konferenz in Teheran (2006). Ahmadinejad leugne den Holocaust, lautete das Verdikt – der aus der Ferne Beschuldigte allerdings deklarierte, vielleicht unwillentlich, die Überzeugung, dass der Holocaust stattgefunden hatte, mit der rhetorischen Frage: Warum haben die Schuldigen in Europa nicht dafür gesorgt, dass der Staat für die Juden auf ihrem eigenen Grund und Boden gegründet wurde?
Israel-feindliche Parolen aber sind in Iran sozusagen Allgemeingut. Sie kommen allerdings nicht aus dem luftleeren Raum: Israels Geheimdienst hat in den letzten zehn Jahren mindestens neun iranische Fachleute (Spezialisten für Nuklear-Technik) in Iran ermordet. Israelischen Spezialisten ist es auch gelungen, durch Sprengkörper Teile der unterirdischen Atomanlagen in Natanz schwerwiegend zu beschädigen. Und im Atomreaktor von Busheer (eine Anlage, die keine militärische Komponente hat) konnte Israel ein Virus einpflanzen, das die Fertigstellung der Anlage um Jahre verzögerte. Negativ beeinflussen die Stimmung in Iran in Bezug auf Israel auch immer wieder Drohungen israelischer Politiker, sie seien schon weit fortgeschritten in der Planung für Luftangriffe auf iranische Anlagen –, um eine iranische Atombombe zu verhindern.
Iran als Machtfaktor
Zurück in die Vorgeschichte und zur Frage, wie es der Islamischen Republik Iran gelungen ist, in der ganzen nah- und mittelöstlichen Region zu einem gewichtigen Machtfaktor zu werden, dass jetzt international alle Augen auf Teheran gerichtet sind. Denn dort fällt die Entscheidung, ob der Gaza-Konflikt sich zu einem regionalen Krieg ausweitet.
Zunächst zum Libanon: Khomeini pries 1979 sein Engagement zugunsten der libanesischen Schiiten als Teil eines Wohltätigkeitsprogramms. Und, tatsächlich, Geld, Sozialhelfer, Lehrer etc. aus Iran führten dazu, dass die früher im komplexen System Libanons benachteiligten Schiiten sich emanzipierten, dass ein Teil der Armen in die Mittelschicht aufsteigen konnte. Zeitlich leicht verzögert (ab 1982) aber begann dann auch der Aufbau einer schiitisch-libanesischen Miliz, Hizbullah (hizb = Partei, Ollah entspricht einer Dialektfärbung im Arabischen, abgeleitet aus Allah, also: Partei Gottes). Je länger Israel seine Truppen im Südlibanon behielt, desto stärker wurde Hizbullah. Und je angespannter die politische Lage in Nahost wurde, desto intensiver wurde das Interesse der Führung in Teheran zugunsten der Miliz, deren Mitglieder übrigens ihren Treue-Eid auf Ayatollah Khamenei schwören, nicht auf einen Libanesen.
Mit dem Engagement für die Schiiten im Südlibanon nahm die regionalpolitische Ausdehnung Irans ihren Anfang – einen grossen Sprung aber machte sie erst als Folge des US-amerikanischen Kriegs gegen den Irak, also ab 2003. Dass Saddam Husseins Regime, dessen Truppen von 1980 bis 1988 gegen Iran einen mörderischen Krieg geführt hatten (zwischen einer halben Million und einer Million Tote auf iranischer Seite) entmachtet und hingerichtet wurde, empfanden die Iraner zunächst als Geschenk. Als aber, als Folge der amerikanischen Intervention im Irak, sich in Syrien und im Irak die Terrorgruppe des Islamischen Staats auszubreiten begann, fühlten sich die Regierenden in Teheran bedroht – und schickten eigene Milizen in den Kampf gegen den IS. Begründung: Man müsse dafür sorgen, dass der IS-Terror nicht iranisches Territorium erreiche; der Kampf müsse so weit entfernt wie möglich ausgefochten werden. So kam es, dass Iraner jahrelang, wenn auch ohne Koordination, am gleichen Strick zogen wie die Amerikaner, die im Übrigen im Sprachgebrauch der Islamischen Republik als «Grosser Teufel» bezeichnet werden. Die Entsendung iranischer Milizen nach dem Irak und Syrien entwickelte allerdings in kurzer Zeit eine gewaltige Eigendynamik – in Syrien waren sie ab 2011 nicht mehr nur gegen IS-Terroristen aktiv, sondern mehr und mehr als Retter des Gewaltherrschers Bashar al-Assad. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass Assad den internen Krieg gegen die Oppositionskräfte ohne die Iraner nicht gewonnen hätte. Im Irak war es etwas anders: Solange die iranischen (oder von Iran finanzierten) Milizen gegen die Terroristen des Islamischen Staats kämpften, waren sie willkommen. Als die Bedrohung durch den IS schwand, forderten mehr und mehr Iraker den Abzug der Iraner. Doch die irakische Regierung in Bagdad brachte es nicht zustande (sie schafft das bis jetzt, 20 Jahre nach dem Krieg, nicht), im Land auch nur einen minimalen Standard von Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger aus eigener Kraft zu bieten – was zur Folge hatte, dass sie nicht weniger als 100’000 Iran-treue Milizen in die regulären, eigenen Streitkräfte integrierten. Wodurch Iran nun definitiv zu einem grossen Machtfaktor im Irak wurde.
Hamas als Stellvertreter Irans gegen Israel
Das Engagement Irans zugunsten der Huthi-Rebellen in Jemen hat wiederum andere Hintergründe. Die Huthi sind, religiös, zwar wie die Iraner Schiiten, gehören aber einer anderen Richtung innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft an (sie werden oft, etwas zu popularisierend, als Fünfer-Schiiten bezeichnet). Die den Iran beherrschenden schiitischen Rechtsgelehrten hatten oder haben auf jeden Fall keinen Anlass, den Huthi aus religiösen Gründen mit Geld und Waffen zu helfen – warum tun sie es dann trotzdem? Weil sie damit ihren regionalen Erzrivalen treffen können: Saudi-Arabien (das im Jemenkrieg grenzüberschreitend gegen die Huthi kämpft).
Ein Engagement zugunsten von Hamas im Gaza-Streifen entwickelten die Herrscher in Teheran erst vor wenigen Jahren. Weshalb überhaupt? Weil Hamas sich als Stellvertreter Irans gegen Israel eignet, ähnlich wie von libanesischem Territorium aus der Hizbullah. Und wie die Huthi sich als Stosstrupp gegen den Rivalen Saudi-Arabien (mit dem Iran ja erst im Verlauf dieses Jahres, unter chinesischer Vermittlung, einen Schein-Burgfrieden geschlossen hat) eignen. Wie wichtig aber die Hamas für die Strategie Irans ist, bleibt umstritten – Iran liebt offenkundig Stellvertreter.
Am Mittwoch dieser Woche titelte die links-liberale israelische «Haaretz»: «The Fall of the Hamas Regime in Gaza wouldn’t Harm Iran’s Regional Strategy», und der Autor des Artikels kommentierte, Iran sei an der Hamas letzten Endes ebenso wenig interessiert wie am Hizbullah. Wichtig für das Regime in Teheran sei es, seine Position gegenüber den Regierungen in der Region des Mittleren Ostens zu konsolidieren, indem es sich als engagiert und betroffen erweise zu jenem Thema oder Problem, das alle Menschen in der muslimischen Welt betreffe: Jerusalem.
Kann man aus all dem eine Prognose-Schlussfolgerung ziehen? Meine persönliche: Iran will nicht direkt in den Krieg hineingezogen werden, wird aber weiterhin «rote Linien» androhen. Und erhält für seine Parolen international immer mehr indirekten Sukkurs: Mehr und mehr Regierungen fordern Israel auf, die Not der Menschen im Gaza-Streifen wenigstens durch «humanitäre Pausen» oder «Feuerpausen» zu lindern. Auch wenn (fast) weltweit Konsens darüber herrscht, dass Israel, nach dem Hamas-Massenmord vom 7. Oktober, das Recht hat, sich zu verteidigen und alles zu unternehmen, um die fast 240 Geiseln frei zu bekommen.