17 Tage nachdem die Offensive gegen Mosul offiziell ausgelöst worden war, haben irakische Sondertruppen des CTS (Counter Terrorism Service) einige der östlichen Aussenquartiere der Stadt erreicht. Die Offensive wird in drei Hauptarmen vom Süden, vom Osten und von Nordosten aus vorangetragen. Die irakische Armee, die sich vom Süden her nähert, hat die Stadt noch nicht erreicht. Sie kämpft zurzeit mehr als 30 km entfernt in der Ortschaft Hamam al-Alil, dem bedeutendsten Ort, der sie noch von Mosul trennt. Dort sollen geschätzte 90 IS-Kämpfer erbitterten Widerstand leisten.
Die Ziele der kurdischen Kämpfer
Die irakischen Sondertruppen des CTS, die sich in Ramadi und in Falludscha bewährt haben, stehen schon am östlichen Rande von Mosul. Die Kurden, die im Osten und im Norden kämpfen, sind ihrerseits ebenfalls noch von der Stadt entfernt. Ihnen geht es in erster Linie darum, die mehrheitlich von Kurden bewohnten Teile der Provinz Niniveh, deren Hauptstadt Mosul ist, zu befreien und abzusichern. Dort wollen sie ihre künftige Herrschaft errichten.
Die Aktivitäten der Schiitenmilizen
Die schiitischen Milizen haben sich vorgenommen, vom Süden her an Mosul vorbei nach Nordwesten vorzustossen, um die Stadt Tall Afar zu erreichen. Tall Afar ist wichtig, weil es die Strasse zwischen Mosul und Raqqa beherrscht. Wenn es durch einen Vorstoss vom Süden her besetzt werden kann, ist den IS-Kämpfern der Weg nach Raqqa abgeschnitten. Allerdings gibt es Berichte, nach denen Führungspersonen des IS bereits in Raqqa Zuflucht gesucht und gefunden hätten.
Tall Afar umstrittenes Ziel
Die Schiitenmilizen haben bis jetzt Tall Afar noch nicht erreicht. Es gibt Aussagen, nach denen die schiitischen Milizen ihren Vorstoss gegen Tell Afar auf eigene Faust und gegen den Willen der irakischen Gesamtführung unternommen hätten. Der offizielle Plan sei gewesen, den IS-Kämpfern den Weg nach Syrien offen zu lassen, in der Hoffnung, alle oder viele von ihnen würden Mosul verlassen und die Stadt wäre dann leichter zu erobern. Ob dies zutrifft ist unklar.
Jedenfalls haben die Türken gewarnt, wenn es in Tall Afar zu Übergriffen gegen die dortige Bevölkerung komme, werde die türkische Armee ihrerseits eingreifen. Dies erklärte der türkische Ministerpräsident schon am vergangenen Freitag. In Tall Afar gibt es einen grösseren Bevölkerungsteil, der aus turkophonen Turkmenen besteht. Viele von ihnen sind vor dem IS geflohen, und einige befinden sich unter den Milizkräften, die sich die Stadt zum Ziel gesetzt haben. Die Turkmenen von Tall Afar sind zu grossen Teilen Schiiten.
Die Dörfer der Provinz Ninive – teilweise entvölkert
Die Ebene rings um Mosul ist fruchtbar und dicht bewohnt. Die Dörfer rings um die Stadt müssen zuerst besetzt und abgesichert werden, bevor die Truppen zu Umzingelung und Angriff auf die Stadt selbst übergehen. In den von Mosul entfernteren Dörfern fanden die einziehenden irakischen Einheiten Bewohner vor, die sich glücklich zeigten, vom IS befreit worden zu sein.
Doch je näher sie an die Stadt heran kamen, desto leerer fanden sie die Dörfer. Der IS hatte die Bewohner gezwungen, nach Mosul zu ziehen. Vermutet wird, er wolle die Zivilbevölkerung dort als menschliche Schilder verwenden. Die IS-Anführer wissen, dass die amerikanische Koalition sich scheut, aus der Luft Ziele anzugreifen, wenn die Gefahr droht, dass dort zahlreiche Zivilisten getötet werden.
Die Flüchtlingszahlen sind noch niedrig
Die Zahl der zivilen Flüchtlinge aus Mosul war zunächst gering. Doch sie wuchs allmählich an, als die Truppen mehr Dörfer einnahmen. Gegenwärtig soll es etwa 90'000 aus ihren Häusern vertriebene Dorfbewohner geben, die auf die Seite der angreifenden Truppen fliehen konnten. Die Hilfswerke bauen fieberhaft nördlich und östlich der Stadt, hinter den gegenwärtigen Fronten, mehrere Lager auf, wo mindestens Teile des zu erwartenden Stroms von aus Mosul fliehenden Menschen Unterkunft finden können.
Vorläufig versucht der IS offenbar, die Zivilbevölkerung in Mosul zurückzuhalten und sogar die Bewohner der umliegenden Dörfer in die Stadt zu schaffen. Es gibt Berichte, nach denen die dortige Bevölkerung aufgefordert wurde, alle Knaben bis hinab auf neun Jahre dem IS als „Soldaten“ zur Verfügung zu stellen. Die Aufforderungen sollen von Drohungen begleitet sein. Es gibt auch Berichte über Massenhinrichtungen in der Stadt. Davon seien Angehörige der früheren Polizei und Staatsangestellte aus der Zeit vor der Herrschaft des IS sowie politische Gefangene der Islamisten betroffen.
Gibt es Widerstand im Untergrund?
Ein Element der Ungewissheit über die innere Lage in Mosul ist, ob und inwieweit ein Untergrund-Widerstand gegen den IS besteht und ob dieser versuchen wird, sich im geeigneten Augenblick in der Stadt selbst gegen den IS zu erheben. Manche irakische Gewährsleute wollen wissen, dass das sogenannte Heer der Naqshibendi weiter bestehe, das seinerzeit vor der amerikanischen Invasion unter der Leitung des Vizepräsidenten Saddams, Ezzat Ibrahim ad-Duri, gebildet worden war.
Diese Gruppe, die aus Baathisten zusammengesetzt war, aber auch den Anspruch erhob, der streng sunnitischen und sehr rechtgläubigen Naqshibendi Sufi-Organisation anzugehören, hatte die amerikanische Besetzung in Mosul überlebt. Duri war nie gefangen worden. Er soll 2015 getötet worden sein.
Doch nach anderen Berichten und einem angeblichen Interview, das er nach diesem Datum erteilt haben soll, ist er noch am Leben und sieht sich als das legitime Oberhaupt der unter Saddam führenden irakischen Baath Partei. Sein „Heer“ hatte ursprünglich bei der überraschenden Übernahme Mosuls im August 2014 die IS-Kämpfer unterstützt (die sich damals noch ISIS nannten). Doch es wurde bald darauf vom IS übermannt und ausgeschaltet.
Seither ist es ein Feind des „Kalifates“, und Duri hat mehrmals zum Kampf gegen den IS aufgerufen. Doch es ist unklar, wie weit seine Kämpfer als organisierte Untergrundbewegung zu überleben vermochten. Neben den Naqshibendi soll es noch weitere, kleinere, Untergrundorganisationen in Mosul geben, die gegen den IS kämpfen wollen.
Barrikaden und Gräben zu Absperrung Mosuls
Was man sicher weiss, weil es auf Luftaufklärung zurückgeht, ist der Umstand, dass die IS-Kämpfer südlich um die innere Stadt eine Verteidigungslinie von Barrikaden und Gräben errichtet haben. Davor haben sie Häuserblöcke zerstört, um sich freies Schussfeld zu schaffen. Dies zeigt, dass sie gesonnen sind, die Innenstadt als ihre Festung zu nehmen und sich in ihren Häusern und Strassen zur Wehr zu setzen.
Wobei offensichtlich der Wille besteht, die Zivilisten in möglichst grosser Zahl in die Kämpfe miteinzubeziehen, als Schutz für die Truppen einerseits und wohl auch im Bemühen, die Kämpfe für die Bevölkerung so verlustreich wie möglich zu machen. Wenn sie selbst ihr Leben verlieren, wollen die Islamisten auch möglichst viele ihrer Untertanen mit ins Verderben reissen.
Wird das Innere Mosuls zum Schlachtfeld?
All dies lässt erwarten, dass die Endphase des Kriegs sich in der Stadt selbst abspielen wird und dass sie die härtesten Kämpfe im Inneren von Mosul stattfinden werden. Bisher, im Vorfeld der Stadt, hat der IS die Verteidigung flexibel geübt. Er beliess bewegliche Kleingruppen in den entvölkerten Dörfern, die versuchten durch Feuerüberfälle, Heckenschützen, Autobomben, Minen und Explosivfallen die vorstossenden irakischen Kräfte zu schädigen und zu verlangsamen, ohne jedoch Gelände halten zu wollen. Erst im Inneren Mosuls dürfte sich diese Taktik ändern. Dort ist ein Versuch zu erwarten, befestigte und gut vorbereitete Stellungen bis aufs Letzte zu verteidigen.
Verstärkte Abwehr durch den IS
Die Antiterror-Einheiten des TCS sind am Freitag zum ersten Mal und unerwartet auf stärkeren Widerstand gestossen. Das Abwehrfeuer in dem östlichen Aussenquartier, das sie zu besetzen suchten, war dermassen intensiv, dass sie zurückweichen mussten, „um eine neue Angriffsstrategie zu entwerfen“, wie ihr führender Offizier erklärte. Am Sonntag sollen sie, begleitet von Tanks, zu einem neuen Vorstoss angesetzt haben.
Die versteifte Abwehr kam überraschend. Die Angreifer hatten erwartet, dass die IS-Leute sich hinter ihre vorbereiteten Barrikaden weiter im Inneren der Stadt zurückziehen würden.
Der „Kalif“ spricht
Der „Kalif“ Abu Bakr hat sich zum ersten Mal seit einem Jahr auf Tonband vernehmen lassen. Er forderte seine Gefolgsleute auf, das Martyrium nicht zu scheuen. Er spielte auf die Entscheidungsschlacht an, die 627 nach Christus vor Medina zwischen den Anhängern Muhammeds und seinen Feinden aus dem noch unbekehrten Mekka stattfand. In dieser, der sogenannten Grabenschlacht, setzte Muhammed sich durch, obwohl seine Anhänger zahlenmässig weit unterlegen waren.
Die feindliche Kavallerie, eine Waffe, die der Prophet selbst nicht besass, wurde durch einen Graben aufgehalten, den die Muslime zuvor ausgehoben hatten. Als es Medina, jenseits des Grabens, während vier Wochen nicht zu stürmen vermochte, ermüdete das feindliche Heer, die Nahrungsmittel gingen ihm aus, und es gab die Belagerung auf.
Märtyrertum als Ersatz für einen Sieg
Doch al-Bagdadi hütet sich, den Ausgang der gegenwärtigen Schlacht als mit jenem der Grabenschlacht vergleichbar vorauszusagen. Er erinnert an jenen Sieg des Propheten. Doch er lässt auch die Möglichkeit offen, dass diesmal das Martyrium am Ende der Kämpfe steht. Auch dies gilt ihm als begehrenswert für die IS-Kämpfer. Es muss nicht notwendigerweise in Mosul sein, sagte er, auch in Libyen lohnt es sich, als Märtyrer für den Islam zu sterben.
Er fordert seine Gefolgsleute auf, nicht zurückzuweichen. Es sei tausend Mal besser standzuhalten und zu sterben, als schmählich davonzulaufen, erklärte er. Er ruft auch dazu auf, „Angriff auf Angriff“ gegen Saudi- Arabien zu lancieren und in die Türkei einzubrechen.
Al-Abadi auf Frontbesuch
Der irakische Ministerpräsident al-Abadi besuchte die Mosul-Front. Er versprach den Bewohnern von Mosul: „Wir werden euch bald befreien.“ Den Journalisten erklärte er, die Stadt werde noch dieses Jahr fallen.
So gut wie alle Beobachter sind der Meinung, dass die militärischen Fragen in Mosul schneller und leichter zu lösen sind als die politischen Fragen, die sich nach der erwarteten Eroberung ergeben werden. Sie werden sich darum drehen, welche der bitter rivalisierenden Angriffskräfte, die zurzeit alle gegen Mosul vorgehen, nach der Eroberung dort das Sagen haben und als Ordnungskraft wirken wird.
Ungelöste politische Fragen
Natürlich erhebt der irakische Staat den Anspruch in der einst zweitgrössten Stadt des Landes die Regierungsgewalt auszuüben. Doch der Staat ist schwach und innerlich zerstritten. Die Regierung von Bagdad liegt heute sehr weitgehend in der Hand der schiitischen Araber der südlichen Landesteile, und sie wird von zwei konkurrierenden Aussenmächten gestützt, den iranischen Revolutionswächtern einerseits und andrerseits den Amerikanern, während die Verbündeten der Amerikaner, die Saudis, erklärte Feinde der irakischen Schiiten und der Regierung von Bagdad sind.
Die Kurden beanspruchen Teile der Provinz Ninive als Teile von Kurdistan. Die schiitischen Milizen wollen in Mosul ein Wort mitreden. Sie werden von Iran unterstützt, falls nötig auch gegen den Willen der Regierung in Bagdad. Die Türken stehen drohend im Raum und erheben den Anspruch, ihre dortigen Interessen falls nötig auch militärisch wahrzunehmen.
Bagdad hat erklärt, es wolle keinen Krieg mit den Türken, doch es sei bereit, diesen aufzunehmen, wenn das notwendig werde. Mosul selbst gilt als die Hauptstadt der irakischen Sunniten, und diese erheben Anspruch auf möglichst weitgehende Autonomie, da sie der schiitischen Regierung von Bagdad und deren Truppen sowie besonders Milizen misstrauen. Doch unter den Sunniten zeichnet sich eine neue Spaltung ab. Sie verläuft zwischen solchen, die sich in der Vergangenheit mit dem IS verbündeten oder abfanden und jenen, die unter seinen Grausamkeiten zu leiden hatten, weil sie Widerstand wagten.