„Ich bin bereit, ins Gefängnis zu gehen“, sagt er an diesem Montag. Und er zitiert einen Satz von Giovanni Guareschi, dem Autor von „Don Camillo und Peppone“: „Manchmal muss man ins Gefängnis gehen, um die Freiheit zu erreichen.“
Ob Salvini ins Gefängnis muss, entscheiden die Richter. Doch die können nur entscheiden, wenn seine Immunität aufgehoben wird.
Das ewige Opfer
Der Lega-Chef wäre nicht der hartgesottene Populist, wenn er nicht aus dem Verfahren politisches Kapital schlagen würde. „Macht mir den Prozess“, rief er aus und forderte seine eigenen Parlamentarier auf, ihm die Immunität zu entziehen. Er tut das, was Populisten am besten können: sich als Opfer aufzuführen. „Der Prozess wird ein Prozess gegen das italienische Volk sein“, sagt er. Und: „Millionen Italiener werden mir zur Seite stehen, weil ich die Grenzen verteidigt habe.“
Der Fall reicht in den Juli letzten Jahres zurück. Das Schiff „Gregoretti“ der italienischen Küstenwache hatte im Mittelmeer 116 Flüchtlinge aufgenommen. Obwohl sich die Situation an Bord verschlimmerte, verbot der damalige Innenminister Salvini den Migranten in der sizilianischen Stadt Augusta an Land zu gehen. Deshalb hat ihn ein Gericht in Catania der „Freiheitsberaubung“ angeklagt. Der „Capitano“, wie ihn seine Freunde nennen, behauptet stets, er habe die Häfen für Flüchtlinge schliessen lassen, um die Italiener und ihre Kultur zu schützen. Das hatte ihm zu einem Popularitätsschub verholfen.
Kopf-an-Kopf-Rennen in der Emilia-Romagna
An diesem Montag entschied nun ein Senatsausschuss in Rom nach chaotischer Abstimmung, dass Salvinis Immunität aufzuheben sei und dass ihm der Prozess gemacht werden könne. Der gesamte Senat muss den Entscheid noch bestätigen. Der Weg ist noch weit.
Am nächsten Sonntag finden in der Emilia-Romagna und in Kalabrien Regionalwahlen statt, die die nationale Regierung in Rom erschüttern könnten. Ob der Entscheid des Senatsausschusses die Wahlen beeinflussen wird – so oder so – ist unklar.
In Kalabrien scheint die von der Lega unterstützte Kandidatin klar gewählt zu werden. Wichtiger als Kalabrien ist die Emilia-Romagna, die während Jahrzehnten von der Linken regiert wurde. Dort prophezeien Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem bisherigen sozialdemokratischen Regionalpräsidenten Stefano Bonaccini und der Lega-Herausforderin Lucia Borgonzoni.
Sollte die Lega-Frau gewinnen, könnte das der Anfang vom Ende der wackligen italienischen Regierung sein, die aus Sozialdemokraten und der Protestpartei Cinque Stelle besteht. Zwar betont Ministerpräsident Giuseppe Conte immer wieder, die Regionalwahlen hätten keinen Einfluss auf seine Regierung. Doch alle wissen, dass das nicht stimmt.
Eine Umfrage zeigt, dass mehr als die Hälfte der Italienerinnen und Italiener damit rechnet, dass die Regierung nicht mehr lange im Amt bleibt. Laut Euromedia Research sind 25,1 Prozent der Befragten der Meinung, die Regierung könne nach den Regionalwahlen am kommenden Sonntag stürzen. Weitere 25,8 Prozent rechnen damit, dass das Koalitionskabinett Conte vor dem Sommer zerbricht.
Salvini bei 30 Prozent
Sollte die Regierung Conte stürzen, hat Staatspräsident Sergio Mattarella kaum eine andere Möglichkeit, als Neuwahlen auszuschreiben.
Diese würden Matteo Salvini und seine Lega nach jetzigem Stand klar gewinnen. Die Lega käme auf etwa 30 Prozent der Stimmen. Zusammen mit der postfaschistischen Partei „Fratelli d’Italia“ und Berlusconis Rumpftruppe „Forza Italia“ könnte Salvini komfortabel eine Regierung bilden.
„Souveränistische Internationale“?
Dann hätte Italien einen rechtspopulistischen Regierungschef. Und Giorgia Meloni, die Chefin der „Fratelli d’Italia“, die im Aufwind ist, könnte Vize-Ministerpräsidentin werden.
Was wäre dann zu erwarten? Würde Salvini, wie er vor den Europa-Wahlen versprach, mit dem souveränistischen, illiberalen Viktor Orbán „ein anderes Europa schaffen“? Würde sich Italien mit Marine Le Pen, der AfD, dem Niederländer Geert Wilders und all den anderen Rechtspopulisten verbünden? Dann entstünde in Europa eine geballte neue Kraft. Salvini sprach einst von einer europäischen „souveränistischen Internationalen“. Dabei wird er von Steve Bannon, dem einstigen Chefstrategen im Weissen Haus, unterstützt.
All diesen Parteien ist gemein, dass sie gegen Migranten Stimmung machen und sehr EU-kritisch sind. Tatkräftig unterstützt würden sie von Wladimir Putin. In Rom nennt man Salvini „Putins Pudel“.
Was wäre, wenn ...?
Was käme also bei einem Sieg Salvinis auf Europa zu? Was wäre, wenn ...? In Rom wird heftig spekuliert. Natürlich gehen die Meinungen auseinander.
Die Lega ist im Grunde genommen eine konservative, kleinbürgerliche Partei. Sie hat keineswegs eine revolutionäre Anhängerschaft. Stark ist sie bei KMUs, dem regionalen Gewerbe, mittleren und kleinen Händlern und der norditalienischen Industrie. Sie alle sind auf gute Beziehungen zum Ausland, zur EU angewiesen. Der renommierte „Repubblica“-Journalist und Buchautor Matteo Pucciarelli schreibt: Die Wählerschaft der Lega sei „im Grunde genommen unbeirrbar kapitalistisch gesinnt“.
Alles halb so schlimm?
Grosse Worte und Schaumschlägerei könnten Salvini an die Macht tragen. Doch wenn er an der Macht ist, könnte man – früher oder später – einen anderen Salvini erleben: einer, der Probleme lösen muss. Mit lautem Geschrei, Hass und Verhöhnung gelingt das kaum. Pucciarelli sagt: „Eigentlich deutet alles auf eine Anpassung an den Status quo hin.“
Also: Alles halb so schlimm? Nicht alle sehen es so positiv. Zumindest in der Anfangsphase könnte Salvini der EU arg zusetzen.
Scharfe Rhetorik
Viele gehen davon aus, dass ein Regierungschef Salvini zuerst einmal Europa mit schrillen Worten erschrecken könnte. Er würde wohl provozieren, mit Orbán, Le Pen und Putin flirten und die Häfen für Flüchtlinge wieder eine Zeit lang schliessen. Er kann ja nicht jahrelang wie ein Löwe fauchen – und plötzlich schnurren wie eine Hauskatze. Er muss seine Anhänger mit drastischen Worten bei der Stange halten. Er darf auch Bannon und alle Rechtspopulisten, die ihn bisher unterstützten, nicht enttäuschen. Seine Rhetorik würde er zunächst wohl kaum mässigen. Doch Rhetorik ist das eine.
Salvini ist intelligent genug zu wissen, dass er – wenn er einmal an der Macht sein sollte – Ergebnisse liefern muss. Natürlich kann er längere Zeit der EU die Schuld für Misserfolge geben. Aber das erschöpft sich.
Gefestigte Demokratie
Zudem kann auch er sich nicht alles erlauben. Italien ist seit über 70 Jahren eine gefestigte Demokratie, eng mit Europa verflochten. Das Land gehört zu den überzeugten Gründungsmitgliedern der EU. Es besitzt zwei starke Parlamentskammern und einen Staatspräsidenten, dessen Wort zählt und der alles andere als ein Freund Salvinis ist.
Im Moment schwebt der Capitano auf Wolke sieben. Doch die Italiener und Italienerinnen haben immer wieder gezeigt, dass sie ihre „Führer“ rasch bejubeln und in den Himmel heben – aber oft ebenso rasch fallen lassen, wenn es ihnen nicht rasch besser geht.
Wenig Geduld mit Politikern
Silvio Berlusconi, der Langzeit-Filou, ist 2011 abgestürzt. Mario Monti und Enrico Letta blieben nur kurz. Matteo Renzi, der Sozialdemokrat, hatte bei den Europawahlen über 40 Prozent der Stimmen erhalten – und wurde kurz darauf davongejagt. Auch Beppe Grillo, der Mitgründer der Fünf Sterne, ist längst ein „Has-been“, ebenso die einst bejubelte Römer Bürgermeisterin Virginia Raggi, „die schönste Bürgermeisterin der Welt“ (Bild).
Wenn Salvini – sollte er Regierungschef werden – nicht rasch liefert, könnte auch sein Stern rasch verblassen. Die Italiener haben mit ihren Politikern traditionell wenig Geduld. Und „liefern“ – das ist im verkrusteten Italien schwierig, auch für Salvini.
Kirche vs. Salvini
Ausserdem polarisiert der Capitano immer mehr. Laut einer Umfrage der Römer Zeitung La Repubblica finden 21 Prozent der Befragten, er sei „der Beste“. 34 Prozent jedoch halten ihn für „den Schlechtesten“.
Zudem hat Salvini im katholisch geprägten Italien einen nicht zu unterschätzenden Feind. Die katholische Kirche, normalerweise immer auf der Seite der Mächtigen, lehnt sich offen gegen seine unmenschliche Politik auf. Im Gegenzug hat der Lega-Chef den Papst zur Persona non grata erklärt. Doch als Salvini in Mailand vor 50’000 Anhängern auftrat und Papst Franziskus attackierte, war der Beifall sehr mässig. Um mit den Katholiken nicht alles zu verscherzen, fummelt er bei seinen Auftritten ständig mit einem Rosenkranz herum. In Kirchen kniet er vor dem Altar andächtig nieder, lässt sich dabei fotografieren – und stellt die Bilder auf Facebook.
Auch sein Image als Rechtsextremer und Antisemit versucht er abzuschütteln. Am Montag erklärte er in einem Interview mit einer Netanjahu-hörigen israelischen Zeitung, er würde als Ministerpräsident Jerusalem als israelische Hauptstadt anerkennen.
Die Proteste der „Sardinen“-Bewegung kratzen zwar an seinem Image als alleinigem „Dompteur der Plätze“, doch in den Meinungsumfragen schlägt sich das nicht nieder. Die Sardinen schaden Salvini kaum, dafür den Sozialdemokraten. Die Lega bleibt mit Abstand die populärste Partei.
Die „Idioten“
Und sollte Salvini einmal an der Macht sein – wie lange würden die aggressive rhetorische Phase und die Angriffe auf die EU andauern? Natürlich kann man nur spekulieren. Einige Beobachter in Rom fürchten, das würde viele Monate dauern. Doch auch er könnte sich nicht über alles hinwegsetzen. Sollte er einmal an der Macht sein, würden provokante Töne bald nicht mehr genügen.
Die Beamten in Brüssel bezeichnete er bisher als „Idioten“. Doch früher oder später müsste er mit der EU zusammenarbeiten. Dann müsste er sich mit diesen „Idioten“ an einen Tisch setzen.
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Literatur:
Lorenz Gallmetzer: Von Mussolini zu Salvini, K&S, Wien, 2019
Matteo Pucciarelli: Salvini, der Aufsteiger, Le Monde diplomatique, Juni 2019
Matteo Pucciarelli: Anatomia di un populista: la vera storia di Matteo Salvini, Feltrinelli, 2016
Io sono Matteo Salvini, Altaforte Edizioni, 2019
Siehe auch: Journal21: Wir befreien euch vom Kommunismus