Wird der Rechtspopulist Matteo Salvini bald neuer italienischer Ministerpräsident? Die Gefahr oder die Chance (je nach Sichtweise) ist gross. Denn die italienische Regierung, die aus Sozialdemokraten und der Protestbewegung Cinque Stelle besteht, ist zerstritten und produziert kaum Positives. Die zurzeit oppositionelle Lega, die Partei von Salvini, ist im Aufwind. Im Herbst eroberte sie die traditionell „rote Hochburg“ Umbrien.
Jetzt, am 26. Januar, stehen Regionalwahlen in der wichtigen norditalienischen Region Emilia-Romagna an. Sie wird seit Jahrzehnten von der Linken regiert. Der Ausgang der Wahl wird knapp werden. Wenn die Lega gewinnt oder ein sehr gutes Ergebnis einfährt, wird dies die nationale Regierung erschüttern. Beobachter schliessen nicht aus, dass die Römer Regierung von Ministerpräsident Giuseppe Conte dieses Jahr nicht überlebt. Dann sind Neuwahlen unausweichlich, und Salvini liegt in allen Umfragen klar vorn.
Wie kam es dazu, dass eine serbelnde Regionalpartei plötzlich stärkste Kraft in Italien ist? Und: Wie gelang es dem einstigen „Kommunisten“ Salvini zum gefürchteten rechtspopulistischen „Heilsbringer“ zu werden? Und weiter: Was wäre von einem Regierungschef Salvini zu erwarten? Würde er in Italien ein „illiberales“, rechtspopulistisches Regime à la Viktor Orbán errichten? Wie sagte der Lega-Chef letztes Jahr: „Mit Orbán und Marine Le Pen werden wir Europa verändern.“
In drei Teilen gehen wir diesen Fragen nach.
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Teil 1: DER AUFSTIEG DER LEGA
„Die letzte Hoffnung für das christliche Abendland“
20’000 Menschen sind gekommen. Sie nennen sich Patrioten. Sie versammeln sich auf einer riesigen Wiese im Städtchen Pontida bei Bergamo. Seit dreissig Jahren treffen sie sich auf dieser „heiligen Erde“. Was den Schweizern die Rütli-Wiese, ist den Lega-Anhängern die Wiese in Pontida. Es ist kein Volksfest und keine Parteiveranstaltung. Der Aufmarsch gleicht einer Andacht, einem Hochamt. Die Teilnehmer sind ernst und ergriffen. Es geht um Würde und Stolz. Und es geht um Freiheit. Aus voller Kehle singen sie aus Giuseppe Verdis Nabucco „Va pensiero sull’ ali dorate“ – die „Parteihymne“ der Lega. „Oh, mia patria sì bella e perduta!“ (Oh, meine Heimat, so schön und verloren!)
Mit dem Treffen erinnern die Lega-Jünger an den „Schwur von Pontida“. Am 7. April 1167 sollen hier die Lombarden vereinbart haben, sich gegen Friedrich I. Barbarossa, den Kaiser des römisch-deutschen Reiches, aufzulehnen. Die Lombarden waren entschlossen, für ihre Autonomie im Reich zu kämpfen. Neun Jahre später, im Mai 1176, besiegte ein lombardisches Heer beim Städtchen Legnano bei Mailand die Armee von Barbarossa und schlug ihn in die Flucht.
Mit diesen historischen Ereignissen im Hinterkopf gründet der scharfe Polemiker Umberto Bossi Anfang der Achtzigerjahre die „Lega Lombarda“. 1987 wird Bossi ins italienische Parlament gewählt. Zu Beginn der Neunzigerjahre schliesst sich die Lega Lombarda mit den Sezessionisten in den Regionen Piemont, Ligurien, Venetien, Emilia-Romagna und Toscana zusammen. So entsteht die „Lega Nord“. Ziel ist die Autonomie oder gar die Abspaltung „Padaniens“ vom übrigen Italien. Als Padanien bezeichnen die Leghisti die Po-Ebene (Po auf Lateinisch: padanus).
Faule Süditaliener
Während die einen nur Steuerhoheit und Verwaltungsautonomie fordern, kämpfen andere offen für ein unabhängiges Norditalien. Von Anfang an hat die Lega Nord einen rassistischen Beigeschmack. Als Feinde gelten die Süditaliener, die als faul, unberechenbar und lügnerisch bezeichnet werden: „Die Schmarotzer aus dem Süden“, hiess es.
Auch Roma und Nicht-Weisse sind Zielscheibe. Roberto Calderoli, Lega-Senator und Vize-Präsident des Senats, bezeichnet die aus dem Kongo stammende schwarze Integrationsministerin Cécile Kyenge öffentlich als „Orang Utan“. Rechtsextreme Kreise, die der Lega nahestehen, bewerfen sie mit Bananen. Ab und zu prahlen Lega-Mitglieder mit faschistoidem Gedankengut.
Saubere Weisse
Die „weissen“ Norditaliener hingegen werden als arbeitsam, effizient, ehrlich und moralisch sauber bezeichnet. „Wir sind die letzte Hoffnung für das christliche Abendland“, heisst es.
Die Partei findet ab und zu auch in gemässigten Kreisen Zustimmung. So wehrt sie sich dagegen, dass die im Norden erwirtschafteten Steuer-Milliarden im kriminellen Mafia-Sumpf des Südens versinken.
Regieren mit Berlusconi
Die Lega Nord ist vielleicht die erste professionell gemanagte rechtspopulistische Partei in Europa. Ihre Politik besteht von Anfang an vor allem darin, Feindbilder zu pflegen. Da sind zunächst „der Sumpf“ in Rom, die Politiker, die Banken: das „Establishment“ ganz allgemein. Das hindert die Lega Nord und Bossi dann allerdings nicht, in die Regierung von Silvio Berlusconi einzutreten.
Anfang der Neunzigerjahre waren in Italien die traditionellen, „historischen“ Parteien zusammengebrochen: Die „Democrazia Cristiana“ (DC) und die Sozialisten (PSI). 1994 erringt die Lega bei den nationalen Wahlen 8,7 Prozent der Stimmen. In der Lombardei sind es gar 17 Prozent.
Berlusconi hatte eben seine „Forza Italia“ gegründet und formt zusammen mit Bossi und der postfaschistischen „Alleanza Nazionale“ (AN) seine erste Mitte-rechts-Regierung. Doch Bossi kann seinen Wählern nicht erklären, weshalb er, der unermüdlich gegen Rom wettert, nun plötzlich in Rom mitregiert. So tritt er nach wenigen Monaten aus der Regierung aus, was zum ersten Sturz von Berlusconi führt. Später finden die beiden immer wieder zusammen.
Annus horribilis
In mehreren Gemeinden und Städten des Nordens erreicht die Lega Nord zwischen 1990 und 2012 eine starke Stellung. Bei Lokal- und Regionalwahlen kommt sie da und dort auf fast 20 Prozent. Die Partei betreibt ein eigenes Radio und publiziert eine eigene Tageszeitung. Sowohl für „Radio Padania Libera“, als auch für die Zeitung „La Padania“ steuert ein junger Journalist immer wieder hetzerische und polemische Artikel bei. Sein Name: Matteo Salvini.
2012 ist für die Lega Nord das Annus horribilis. Jetzt wird bekannt, dass Umberto Bossi aus der Parteikasse seinen Söhnen eine Million Euro überwiesen hat. Nicht genug: Man erfährt, dass viele Millionen, die die Lega vom Staat als Wahlkampfhilfe erhalten hatte, veruntreut wurden. Spesenbelege waren gefälscht worden. In der Parteikasse fehlen plötzlich über 40 Millionen Euro. Die Partei wird verpflichtet, diese in Raten an den Staat zurückzuzahlen. Das tut sie jetzt noch immer. Die Lega, die sich so sauber gibt und gegen den kriminellen Süden loszieht, steckt plötzlich tief im Sumpf.
Jetzt schlägt seine Stunde
Es kommt noch schlimmer: Umberto Bossi erleidet einen Herzinfarkt und einen Schlaganfall. Seiher kann er kaum sprechen. Von einem Tag auf den anderen verliert die Partei ihre charismatische Galionsfigur. Der Stimmenanteil der Lega fällt wegen des Finanzskandals auf 4,3 Prozent.
Jetzt musste ein neuer Parteichef her. Im Dezember 2013 wird Salvini mit 82 Prozent der Delegiertenstimmen zum neuen Parteiführer der Lega Nord gewählt. Jetzt schlägt seine Stunde. Und er packt die Chance. Er zeigt ein beeindruckendes politisches Gespür und krempelt die Lega völlig um.
Die „Lega Nord“ wird zur „Lega Salvini“
Aus der Partei des Nordens wird jetzt eine gesamtitalienische Partei. Die Lega Nord heisst jetzt nicht mehr Lega Nord, sondern zunächst nur noch Lega – und dann „Lega Salvini Premier“. Das Wort „Padanien“ verschwindet aus dem Logo und dem Wortschatz. Salvini weiss, dass die Italiener genug von der Opera buffa der Römer Politik haben und starke Führungskräfte lieben. So schneidet er die Partei völlig auf sich selbst zu. „Einen besseren als mich gibt es nicht“, sagt er. Seither zelebriert er einen übermütigen Personenkult. „Er fasziniert mich“, schreibt eine 18-jährige Userin auf Facebook.
Jetzt wechselt er den Feind aus. Plötzlich stellt er die Angriffe auf die „faulen“ Süditaliener ein, denn er will auch ihre Stimmen. Die neuen Feinde der Lega sind nun die Migranten, die Muslime, die Roma, die EU, Angela Merkel und Emmanuel Macron.
Wie kein anderer spielt er virtuos auf der populistischen Klaviatur. Er provoziert, gibt sich jovial, bricht Tabus – und ist allgegenwärtig. Mit Erfolg.
2016 erzielt die Lega noch 7 Prozent der Stimmen. Bei den Parlamentswahlen 2018 kommt sie schon auf 17 Prozent. Im Sommer 2019 hätten Salvini laut Umfragen 38 Prozent der Italiener und Italienerinnen ihre Stimme gegeben.
Doch jetzt, im Sommer 2019, überschätzt sich der sonst brillante Taktiker, der damals Innenminister war. Er stürzt die Regierung, spekuliert auf Neuwahlen, die er dann, so glaubt er, grossartig gewinnen würde. Doch Staatspräsident Sergio Mattarella macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Er beauftragt die Sozialdemokraten und die Cinque Stelle mit einer Koalitionsregierung, die jetzt dahindümpelt.
Wer allerdings geglaubt hat, Salvini sei nun in der Besenkammer verschwunden und erledigt, wurde jäh eines Besseren belehrt.
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Doch wie kommt es, dass ein anarchistischer Linker plötzlich zu einem der einflussreichsten und gefürchtetsten europäischen Politiker wird? Dieser Frage gehen wir im zweiten Artikel dieser Serie nach.