«Zu viel und nie genug: Wie meine Familie den gefährlichsten Mann der Welt schuf»: Der Titel des jüngsten Bestsellers über Donald Trump tönt dramatisch und dessen sensationelle These wird am Ende auch nicht bewiesen. Und doch ist der Inhalt des Enthüllungsbuches ernst zu nehmen, stammt die Autorin, eine Nichte des Präsidenten, doch aus dem engsten Umfeld der Familie. Und als promovierte klinische Psychologin ist sie befugt, eine Diagnose zu stellen, auch wenn die den eigenen Onkel betrifft.
Ohne das Buch gelesen zu haben, lässt eine Pressesprecherin des Weissen Hauses zwar verlauten, Mary L. Trumps Memoiren strotzten vor Fehlern. Und sowieso gehe es ihr allein ums Geld. Auch sind Versuche der Verwandtschaft misslungen, das Erscheinen des Buches auf dem Rechtsweg zu verhindern.
Doch kurz nach Publikation der Erinnerungen des früheren Nationalen Sicherheitsberater John Bolton dürfte auch das Buch der 55-jährigen Tochter des älteren Bruders wenig dazu beitragen, Donald Trumps wegen Covid-19 und dessen Folgen angeschlagene Beliebtheit zu steigern. Fred Trump war, von der Familie verfemt und im Stich gelassen, als Alkoholiker im Alter von 42 Jahren gestorben. Mary war damals 16-jährig.
Das Buch schildert, wie Donald Trump in jungen Jahren alles tat, um seinem unnachgiebigen Vater zu gefallen und wie der Vater wiederum alles tat, um seinem Lieblingssohn zum Erfolg zu verhelfen. Dies, nachdem Fred zum allgemeinen Missfallen aus dem Familiengeschäft ausgestiegen war, um TWA-Pilot zu werden. Donald wollte dem Vater zuliebe zu jenem «Killer» werden, der sein Bruder nie sein konnte.
Als junger Mann eignete sich Donald jene Charakterzüge an, die ihn als Geschäftsmann im Baugewerbe und später als Präsidenten definieren sollten: seine Geltungssucht, seinen Grössenwahn, seine Aversion gegen Kritik und abweichende Meinungen, seinen Willen, um jeden Preis zu gewinnen, nicht zuletzt dank Lug und Trug, seine menschliche Kälte vis-à-vis Untergebenen, Konkurrenten und Frauen.
Ihr Onkel, schreibt Mary Trump, erfülle alle klinischen Kriterien eines Narzissten. Doch Narzissmus allein deckt ihr zufolge nicht das ganze Spektrum seiner psychischen Probleme ab: «Tatsache ist, dass Donalds Pathologien so komplex und seine Verhaltensmuster so unerklärlich sind, dass es eine ganze Batterie psychologischer und neurophysikalischer Tests bräuchte, denen aber er sich nie stellen wird, um zu einer zutreffenden und umfassenden Diagnose zu finden.» Als Präsident, der Zwietracht säe und die Nation spalte, verfahre er heute nichts anderes, als es sein Vater mit den Söhnen getan habe.
Indem er Donalds Zugang zu den eigenen Gefühlen einschränkte und viele dieser Gefühle für unzulässig erklärte, habe Vater Trump die Wahrnehmung seines Sohnes von der Wirklichkeit und seine Fähigkeit, in ihr zu leben pervertiert, schreibt Mary Trump in «Zu viel und nie genug». Sie zitiert ihre Tante Maryanne Trump Barry, eine Bundesrichterin im Ruhestand, die 2015 angesichts der Pläne ihres Bruders, Präsident der USA zu werden, Bedenken äusserte: «Er ist ein Clown – er wird es nie schaffen.» Besonders beunruhigt soll sich Maryanne über die Unterstützung gezeigt haben, die Donald Trump seitens evangelikaler Christen genoss: «Donald ging nur in die Kirche, wenn dort Kameras auf ihn warteten. (…) Aber hier geht es um seine Basis. Er hat keine Prinzipien. Gar keine.»
Trotzdem wird es auch künftig nicht an Speichelleckern mangeln, die Präsident Donald Trump durch dick und dünn verteidigen. Unter ihnen dürfte sich mit Tucker Carlson auch der populärste Moderator von Fox News befinden, mit dem Trump gelegentlich telefoniert. Carlson hat Anfang Woche Senatorin Tammy Duckworth, die als Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin an der Seite Joe Bidens gehandelt wird, als «Schwindlerin», «Idiotin» und «Feigling» beschimpft.
Duckworth, seit der Verwundung als Helikopterpilotin im Irak-Krieg 2004 an beiden Beinen amputiert, hatte gesagt, über eine Entfernung von Statuen George Washingtons, der Amerikas erster Präsident und Sklavenhalter war, lasse sich zumindest diskutieren. Dem Fernsehmoderator zufolge gehört die dekorierte Kriegsveteranin nun zu jenen, die «Amerika in Wirklichkeit hassen».
Wie Donald Trump hat Tucker Carlson nie Dienst geleistet, was beide aber nicht daran hindert, sich bei jeder Gelegenheit als Super-Patrioten zu geben. Unvergessen jener Auftritt des Präsidenten in Washington DC, als er auf der Bühne eine amerikanische Flagge umarmte und küsste. Indes hat Tammy Duckworth auf Twitter die üblen Vorwürfe gegen sie wie folgt beantwortet: «Will @Tucker Carlson auf meinen Beinen eine Meile weit gehen und mir dann sagen, ob ich Amerika liebe oder nicht?»
Carlson steht stellvertretend für jene, die Amerikas geistiges Klima nachhaltig vergiften. Doch dafür ist Donald Trump nicht allein verantwortlich. Die Saat für die Spaltung der Nation ist bereits Mitte der 1990er-Jahre ausgebracht worden, von Newt Gingrich, der als Mehrheitsführer der Republikaner im Abgeordnetenhaus statt auf Kooperation auf Konfrontation und statt auf Dialog auf Attacke setzte. Von dieser Art dysfunktionaler Politik hat sich Amerika nie mehr erholt, so wenig wie es Donald Trump gelungen ist, den Folgen der fehlgeleiteten väterlichen Erziehung zu entkommen.