Das 5. Opfer ist nicht tot. Aber die Medien, die Untersuchungsbehörden und die Umstände haben da jemanden mitsamt seiner Familie innerhalb von nur 48 Stunden erledigt, und dies wohl für lange Zeit.
Eric Devouassoux, 48 Jahre alt, verheiratet und Vater von drei Kindern, erscheint heute blass und abgemagert auf den Fernsehbildern und blickt verzweifelt ins Ungewisse, Tränen schiessen ihm immer wieder in die Augen. Noch vor wenigen Monaten war er der langjährige Gemeindepolizist in Talloires, einem Städtchen in der Nähe des Tatortes Chevaline unweit von Annecy gewesen, wo er auch wohnt. Seit 6 Monaten hatte er nun einen neuen, besser bezahlten Job gefunden, arbeitete als privater Sicherheitsmann in Genf.
Als er am Morgen des 18. Februar sein Auto bestieg, um zur Arbeit in die benachbarte Schweiz zu fahren, begann für ihn ein Alptraum. „Sechs Polizisten“, so erzählt Devouassoux, der sich 10 Tage danach jetzt erstmals öffentlich geäussert hat, „sind über mich hergefallen, haben mich bäuchlings auf den Boden gedrückt, Handschellen angelegt und mir gesagt, ich sei hiermit in Polizeigewahrsam genommen bezüglich des Vierfachmordes von Chevaline“. Und der Alptraum nahm seinen Lauf.
Phantombild
Seit dem 5. September 2012, als ein britisches Ehepaar irakischer Herkunft, die 74-jährige Mutter der Frau und ein Amateurradfahrer aus der Umgebung auf einem Waldparkplatz mit gezielten Schüssen getötet worden sind und nur die zwei Kinder des Paares überlebten, tappen die Untersuchungsbehörden von Annecy im Dunkeln.
Erbschaftsstreitigkeiten mit dem ebenfalls in England lebenden Bruder des getöteten Familienvaters, Industriespionage, irakische Hintergründe oder ein Zufallstäter aus der Umgebung lauten die Pisten, die von der Kriminalpolizei verfolgt werden. Bislang ohne schlüssige Ergebnisse, obwohl ein Team von 30 Beamten an dem Fall arbeitet.
Im vergangenen November veröffentlichten die Ermittlungsbehörden dann ein Phantombild. Es war auf Grundlage der Zeugenaussagen von zwei Waldarbeitern erstellt worden, die einen Motorradfahrer mit einem ganz speziellen Helm auf einer Harley Davidson unweit des Tatorts am Nachmittag der Tat gebeten hatten, den verbotenen Waldweg wieder zu verlassen.
Drei Monate später ist Eric Devouassoux auf Grund dieses Phantombilds festgenommen worden. Leute aus dem Dorf und der Umgebung, die berühmten guten Seelen, wie er jetzt konsterniert sagt, wollten ihn erkannt haben. Wie die Person auf dem Phantombild trägt der 48-Jährige einen Kinnbart und der wurde ihm offensichtlich zum Verhängnis. „Da hätten sie auch den ehemaligen französischen Abfahrtsweltmeister Luc Alphand verhaften können“, sagt Devouassoux heute verbittert. Und er hat recht – auch Alphand sieht dem Phantombild in der Tat recht ähnlich.
Die Meute bricht herein
Kaum war an jenem 18. Februar 2014 die erste Agenturmeldung erschienen, wonach im Zusammenhang mit dem Vierfachmord von Chevaline ein Mann festgenommen worden sei, war Eric Devouassoux auch schon der Tatverdächtige, wurde nach nur wenige Stunden von der gesamten Presse auch schon als solcher bezeichnet – da konnte sich der zuständige Untersuchungsrichter wütend den Mund fusselig reden und die Finger Wund schreiben, dass dem nicht so sei - es nützte nichts mehr. Die Maschinerie war nicht mehr anzuhalten, die Presse hatte sich schon massenhaft auf den Weg gemacht in das französisch-schweizerische Grenzgebiet - über ein Dutzend Kamerateams aus Grossbritannien, Belgien und Frankreich rückten an, standen im einzigen Dorfbistrot Schlange für ein Interview, quälten die Anwohner so lange, bis irgend einer irgendetwas Negatives über seinen gerade festgenommenen Mitbürger zu sagen hatte und sei es nur, er sei ein Eigenbrötler und lebe eher zurückgezogen.
Die drei französischen Informationsfernsehen installierten ihre Übertragungswagen und berichteten von da ab ohne Unterbrechung, ohne wirklich Neues zu vermelden zu haben. Irgendwann berichteten sie, Devouassoux' Handy sei zur Tatzeit am 5. September 2012 in der Nähe des Tatorts lokalisiert worden. Dass dies blanker Unsinn war, erfährt die Öffentlichkeit aber erst jetzt, 10 Tage später und aus dem Mund des mutmasslich Verdächtigen. De facto hatte Devouassoux zur Tatzeit in Annecy sein Auto getankt und ist zur Arbeit nach Genf gefahren.
Waffensammler
Nächste Meldung an jenem 18. Februar: bei der Hausdurchsuchung im Domizil des Festgenommenen seien Waffen gefunden worden. Dies stimmte. Eine Sammlung alter Waffen, von denen die jüngste 75 Jahre alt ist. Da der Mord aber mit einer alten Luger verübt worden war, wie sie die Schweizer Armee vor dem 2. Weltkrieg verwendedt hatte, schien in den Augen vieler der Täter bereits gefunden.
Das einzige Problem: in der Waffensammlung gab es zwar eine Luger, aber nicht das richtige Modell. Damit der Verdächtige aber weiter verdächtig bleiben kann, war er jetzt eben kein Mordverdächtiger mehr, dafür zumindest ein Waffenhändler.
Nichts liegt vor
So klang es zumindest nach einer Pressekonferenz des Untersuchungsrichters in Annecy, bei der man sich die Augen reiben konnte. Sie fand 48 Stunden nach der Festnahme von Devouassoux statt, noch bevor er aus dem 4 Tage dauernden Polizeigewahrsam wieder entlassen wurde. Die 3 französischen Informationsfernsehen übertrugen sie doch tatsächlich live, wie ein echtes Grossereignis, wie die Pressekonferenz des Staatspräsidenten. Bei dieser Gelegenheit versuchte der Untersuchungsrichter noch einmal, die Medien in die Verantwortung zu nehmen, las ihnen die Leviten und klagte sie an, den Festgenommenen zu Unrecht als Verdächtigen bezeichnet zu haben. Denn das Fazit dieser Pressekonferenz war klar: man hatte gegen den Festgenommenen nichts in der Hand, rein gar nichts, es sei denn die Waffensammlung . Vor allem passten auch die DNA Spuren am Tatort, über die die Untersuchungsbehörden verfügen, nicht zu Eric Devouassoux.
Doch die Medien berichteten erst mal kräftig weiter, schliesslich war der 48-Jährige ja noch weitere 48 Stunden in Polizeigewahrsam, bevor er dann endlich nach Hause zurückkehren durfte und sich erst mal fast eine Woche lang eingeschlossen hat.
Familie zerstört
Nun hat ihm sein Anwalt dringend geraten, seinerseits an die Öffentlichkeit zu gehen. Und der schwer gezeichnete, 48- jährige Familienvater hat das sehr überzeugend getan. Die Medien können sich danach eigentlich nur noch in Grund und Boden schämen. Lernen werden sie angesichts der herrschenden Schnelllebigkeit, allgemeinen Hysterie und Konkurrenz untereinander wohl kaum etwas.
„Mein Vater, den ich nie habe weinen sehen, hat mich in Tränen angerufen und mir erzählt, dass sie selbst versucht haben, meine 92-jährige Grossmutter im Altersheim zu interviewen. Sie haben versucht, in ihr Zimmer einzudringen“, erzählt Devouassoux und sieht dabei erschöpft und immer noch schockiert aus. Innerhalb von nur 4 Tagen habe man ihn und seine Familie zerstört. Sein 13-jähriger Sohn traue sich immer noch nicht wieder in die Schule und lebe bei seinen Schwiegereltern. Und man habe einen zusätzlichen Arbeitslosen produziert, nach dem ersten Tag seines Polizeigewahrsams sei er von seinem schweizerischen Arbeitgeber entlassen worden. Er habe ein ganz normales Leben geführt, das man ihm vom einen auf den anderen Tag kaputt gemacht habe. Nun wisse er nicht einmal, ob er sein Haus behalten könne, für das er einen Kredit aufgenommen habe. „Ich finde mich in der Gosse wieder und draussen kreisen immer noch die Geier.“
Nicht ausgeschlossen, dass der ehemalige Gemeindepolizist von Talloires und Opfer des medialen Wahnsinns, am Ende nicht auch noch sein Dorf verlassen muss und nicht nur, weil er vielleicht sein Haus aus finanziellen Gründen wird verkaufen müssen. Nach dem Presse-Tsunami, der über den Ort hinweggefegt ist und ein schwer erträgliches Klima zurückgelassen hat, sagen sich sicherlich trotz allem zu viele Bewohner von Talloires, dass es ohne Feuer doch keinen Rauch geben könne. Wie viele im 1700 Seelen Ort Eric Devouassoux heute wohl noch offen in die Augen schauen?