Russlands Staatschef Putin deklariert für das orthodoxe Weihnachtsfest vom 6. Und 7. Januar eine 36-stündige Waffenruhe seiner Angriffstruppen in der Ukraine. Die Kiewer Führung lehnt es ab, die militärische Verteidigung ebenfalls ruhen zu lassen. Sie hat gute Gründe, Putin zu misstrauen. Der Einbrecher denkt offenkundig nicht daran, nach der minimalen Verschnaufpause mit der Terrorisierung und Zerstörung des Nachbarlandes aufzuhören.
Stellen Sie sich vor, ein schwer bewaffneter Einbrecher ist in Ihr Wohnhaus eingedrungen. Mehrere Mitbewohner hat er bereits umgebracht und einige Wohnungen verwüstet. Sie haben sich mit anderen Überlebenden in ein oberes Stockwerk zurückgezogen und versuchen, sich gegen das Vorrücken des skrupellosen Gangsters zu verteidigen. Plötzlich ruft der Einbrecher den terrorisierten Hausbewohnern zu, er mache jetzt eine kurze Verschnaufpause. Gleichzeitig gibt er aber unzweideutig zu erkennen, dass er keineswegs daran denkt, das Haus zu verlassen und sich von seinem Vorhaben, das ganze Gebäude unter seine Kontrolle zu bringen, abbringen zu lassen.
Wie würden Sie als Hausbewohner in dieser Situation reagieren? Würden Sie dem Gangster trauen und dankbar die Anstrengungen zur Abwehr des Angreifers ebenfalls ruhen lassen – bis dieser von neuem und vielleicht mit zusätzlich besorgten Waffen gegen Ihr Refugium im oberen Stockwerk anrennt?
So ungefähr lässt sich verkürzt die Situation der Ukraine im Hinblick auf Putins scheinbar grossmütige Ankündigung einer anderthalbtägigen Feuerpause seiner im Nachbarland eingefallenen Truppen während des orthodoxen Weihnachtsfestes erklären. Man kann gut verstehen, dass die ukrainische Führung keine überzeugenden Gründe sieht, auf Putins weihnachtlich verbrämte Geste ebenfalls mit einer Waffenruhe zu reagieren. Wer seit über zehn Monaten derart mörderisch und entgegen allen zuvor unterschriebenen Garantieverträgen attackiert wird, wie Putins Streitkräfte das in der Ukraine praktizieren, hat das gute Recht, sich mit aller Kraft und ohne zweifelhafte Pausen auf seine Verteidigung und die Vertreibung der Einbrecher zu konzentrieren. Jedenfalls ist es nicht an den sich tapfer wehrenden Opfern dieses verbrecherischen Krieges, dem Aggressor eine Verschnaufpause zu gönnen.
Ausserdem kann man es der ukrainischen Führung gewiss nicht verargen, dass sie grundsätzliche jeder Ankündigung vonseiten Putins abgrundtiefes Misstrauen entgegenbringt und seine deklarierte «Weihnachtswaffenruhe» in erster Linie als billige Propaganda-Aktion einstuft. Oder darin gar eine mögliche Falle vermutet, um militärische Vorteile zu erzielen. Dass der Kremlchef nicht die geringsten Hemmungen hat, gegenüber dem in- und ausländischen Publikum faustdicke Lügen aufzutischen, wenn das seinem imperialen Kalkül dient, sollte spätestens seit der Einverleibung der Krim im Jahr 2014 bekannt sein.
Damals hatte er zunächst behauptet, die «grünen Männchen», die plötzlich auf der Halbinsel im Schwarzen Meer auftauchten, hätten nichts mit russischen Soldaten zu tun. Nur um wenig später im russischen Fernsehen zu erklären, diese Übernahme sei eine gut vorbereitete militärische Operation gewesen. Und sollten die unerschütterlichen Putin-Verharmloser im Westen schon vergessen haben, dass der Moskauer Alleinherrscher noch wenige Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine gegenüber prominenten Besuchern wie Macron und Scholz an seinem überlangen Kremltisch treuherzig versichert hatte, es werde bestimmt keinen militärischen Angriff auf das Nachbarland geben?
Zu wirklichen Bewegungen in Richtung Frieden und echten Verhandlungen wird es in diesem Krieg erst kommen, wenn Putin einsehen muss, dass er mit militärischem Einsatz nicht mehr weiterkommt und deshalb Gefahr läuft, dass seine Autorität auch an der Heimatfront ins Rutschen gerät. Die jüngsten Beschlüsse in Paris, Berlin und Washington, die ukrainischen Verteidigungsanstrengungen mittels Panzerlieferungen noch substanzieller zu unterstützen, dürften Putin dieser Einsicht näher bringen als eine kurze «Weihnachtswaffenruhe».