Eine von einem Flugzeug oder einer Drohne abgefeuerte Rakete schlug am frühen Morgen des 31. Juli in ein Gebäude im Norden Teherans ein, das den Revolutionsgarden gehört und von ihnen als Veteranenheim genutzt wird. Derzeit diente es als Gästehaus für palästinensische Delegationen, die sich anlässlich der Amtseinführung des neuen iranischen Präsidenten Mas’ud Peseschkian in Teheran aufhielten.
Bei dem Anschlag wurden der Chef des Politbüros der Hamas, Ismail Haniya, und einer seiner Leibwächter tödlich getroffen. Haniya war kurz zuvor von den Feierlichkeiten im Parlament in das Gästehaus zurückgekehrt. In einer anderen Etage des Gästehauses war der Generalsekretär des Palästinensischen Islamischen Dschihad, Ziyad al-Nakhala, untergebracht. Er und seine Delegation wurden bei dem Angriff offenbar nicht verletzt.
Am Vortag war bei einem israelischen Raketenangriff auf ein Wohnhaus in Südbeirut der militärische Chef der Hisbollah, Fuad Ali Schukr, getötet worden. Bei dem Angriff starben auch eine Frau und zwei Kinder. Der 63-jährige Schukr, der zur Gründergeneration der Hisbollah gehörte, war der wichtigste militärische Berater des Generalsekretärs der Hisbollah, Hassan Nasrallah, und als militärischer Planungschef eine hochrangige Person in der komplexen Autoritätsstruktur der Hisbollah. Während sich die israelischen Behörden zum Anschlag in Teheran zunächst in Schweigen hüllten, übernahmen sie unmittelbar nach dem Anschlag in Beirut die Verantwortung für die Tat.
Koordinierte Aktion
Zwischen den beiden Anschlägen lagen nur wenige Stunden. Dies legt die Vermutung nahe, dass sie koordiniert waren. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Planungen für die Anschläge in Beirut und Teheran längere Zeit in Anspruch genommen haben. Die Behauptung des israelischen Militärs, der Angriff in Beirut sei eine Vergeltung für die Tragödie auf dem Fussballplatz des drusischen Städtchens Madjdal Shams im Norden der von Israel annektierten Golanhöhen gewesen, erscheint daher vorgeschoben. Tatsächlich hatte ein israelischer Militärsprecher zunächst einen lokalen Hisbollah-Kommandeur für den Raketenangriff verantwortlich gemacht, bei dem zwölf Kinder und Jugendliche ums Leben kamen. Nach der Tötung Schukrs hiess es, der Angriff habe dem Drahtzieher des (vermutlich fehlgeleiteten) Angriffs auf Madjdal Shams gegolten. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Angriffe von langer Hand geplant waren und modernste technische Mittel zur Ortung von Zielpersonen wie Spionagesoftware auf Mobiltelefonen eingesetzt wurden.
Der Doppelschlag von Beirut und Teheran richtete sich damit zugleich gegen das enge Bündnis zwischen Hisbollah, Hamas und dem iranischen Regime. Für die Hisbollah bedeutet er ein Desaster, für die Hamas einen tiefen Einschnitt und für den Iran eine enorme Demütigung und einen Gesichtsverlust.
Irans Demütigung
Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die iranische Politik auf zwei Säulen ruht. Auf der einen Seite das Regierungssystem, repräsentiert durch den Präsidenten, und auf der anderen Seite das System der Revolutionsgarden, das direkt dem Revolutionsführer untersteht. In den letzten Jahren hat sich eine Hegemonie der Revolutionswächter herausgebildet, die den Spielraum für eine eigenständige Regierungspolitik deutlich einschränkt. Die Hegemonie der Revolutionswächter sowohl im formellen als auch im informellen Bereich der iranischen Politik und Gesellschaft ist unbestritten. Natürlich wird der neue Präsident Peseschkian versuchen, diese Spielräume zu erweitern und der Regierungspolitik mehr Autonomie zu sichern. Allerdings zeichnet sich bereits jetzt ab, dass die Revolutionsgarden eine solche Autonomie nicht tolerieren werden. Zudem bilden auch die Revolutionswächter keine einheitliche Ordnung, sondern sind in zwei unterschiedliche Machtblöcke gespalten. Auf der einen Seite dominieren jene Teile der Revolutionswächter, die in der iranischen Politik und Gesellschaft verankert sind und dort eine stark systemkonservative Politik betreiben. Ihnen geht es vor allem um die Bewahrung des Systems der islamischen Revolution, das ihnen eine privilegierte gesellschaftliche Stellung und wirtschaftliche Hegemonie sichert. Auf der anderen Seite hat sich im Kontext der «Achse des islamischen Widerstandes» eine Elite der Revolutionsgarden herausgebildet, die sich militärisch in den al-Quds-Brigaden organisiert und vor allem als Auslandsorganisation der Revolutionsgarden fungiert. Diese Garden repräsentieren noch stärker die ideologische Basis der islamischen Revolution. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Revolutionsgarden die Organisation sind, die die Lehre der islamischen Revolution in ihrem Kern repräsentiert. Es handelt sich um eine messianische Interpretation des islamischen Nationalismus, die sich der schiitischen Tradition bedient.
Irans Drohungen
Dieses komplexe Gefüge bestimmt die Reaktion der iranischen Führung auf die Ereignisse in Beirut mit der Ermordung des Militärkommandeurs Fuad Schukr und auf die Ereignisse in Teheran mit der Ermordung des Politbürochefs der Hamas, Ismail Haniya. Revolutionsführer Khamenei sieht seine Aufgabe darin, die systemkonformen und systemkonservativen Teile der Macht zu stärken und abzusichern, indem er einerseits den Extremismus der Revolutionsgarden eindämmt und andererseits Versuche des Regierungslagers, der Exekutive mehr Autonomie zu sichern, unterläuft. Die Reaktionen auf die Ereignisse in Teheran und Beirut scheinen daher vorhersehbar. Khamenei wird rhetorisch versuchen, den Aspekt der drohenden Vergeltung in den Vordergrund zu stellen, ohne den Verdacht aufkommen zu lassen, dass der Iran eine direkte kriegerische Konfrontation wagen könnte.
So berichtete die New York Times, Revolutionsführer Khamenei habe den Iran angewiesen, als Vergeltung für die Ermordung des Hamas-Führers Ismail Haniya in Teheran Israel direkt anzugreifen. Khamenei habe den Befehl bei einer Dringlichkeitssitzung des Obersten Nationalen Sicherheitsrates am Mittwochmorgen gegeben, so die Informanten der Zeitung. Dagegen liess einer der Stellvertreter des neuen iranischen Präsidenten verlauten, dass der Iran gerade nicht an einer Eskalation interessiert sei. Dieser Widerspruch kann als arbeitsteilige Stellungnahme interpretiert werden: Khamenei bedient sich einer radikalen Rhetorik, um die Eliten der Revolutionsgarden zufrieden zu stellen, der neue Präsident gibt sich staatsmännisch und versucht, den Iran wieder auf die Ebene internationaler Vermittlungsbemühungen zurückzuführen. Es ist davon auszugehen, dass beides nicht realisiert wird.
Da aber auch die Interessen der Eliten der Revolutionsgarden gewahrt bleiben müssen, wird der Iran sicherlich einmal mehr seine Proxys nutzen, um eine symbolische, vielleicht sogar auf Effektivität ausgerichtete militärische Reaktion durchzuführen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die iranische Seite unter einem enormen Legitimationsdruck steht. Zwar kamen bei den Anschlägen in Beirut und Teheran keine iranischen Staatsbürger zu Schaden, doch werden diese Angriffe vielfach so interpretiert, dass der Iran nicht in der Lage ist, seine Proxys zu schützen, geschweige denn die Souveränität über sein eigenes Land auszuüben. Dass das israelische Militär in der Lage war, den Aufenthaltsort von Shukr zu bestimmen, ist weniger überraschend. Schändlicher erscheint die Tatsache, dass es Israel gelungen ist, den Aufenthaltsort von Haniya in der iranischen Hauptstadt rechtzeitig zu identifizieren, den Zeitpunkt zu kennen, zu dem er dort auftauchte, und mit einem Luftschlag weit in den iranischen Luftraum hinein zu operieren. Es ist auch eine Demütigung, dass der Iran als ein Land dargestellt wird, das nicht einmal in der Lage ist, seine eigenen Staatsgäste zu schützen. Das Regime wird sicherlich auf diese Demütigung reagieren. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass der Iran die Ereignisse in Teheran in naher Zukunft zum Anlass für eine offene und direkte militärische Konfrontation mit Israel nehmen wird.
Hisbollahs Desaster
Damit kommen wieder die Proxys ins Spiel. Für die Hisbollah ist die Tötung ihres militärischen Planungschefs Schukr ein Desaster. Schon der fehlgeleitete Angriff auf die Drusenstadt Madjdal Shams hatte gezeigt, dass auch die hochgelobte militärische Stärke der Hisbollah verwundbar ist. Die stark personenzentrierte Organisation wird Schukr nicht von heute auf morgen ersetzen können, was eine unmittelbare und längerfristige militärische Konfrontation eher unwahrscheinlich macht. Es ist davon auszugehen, dass die Hisbollah ihre Taktik der militärischen Scharmützel an der Grenze fortsetzen wird, dabei aber vorsichtig vorgehen wird, um die eigene militärische Infrastruktur nicht zu sehr zu gefährden. Wie verwundbar die Hisbollah ist, zeigte sich daran, dass sie nach dem Raketenangriff auf das Drusenstädtchen vorsorglich ihre wichtigsten militärischen Einrichtungen ausgedünnt und teilweise sogar entmannt hatte, um die Wirkung israelischer Militärschläge abzumildern.
Gerade die innenpolitische Situation im Libanon lässt erwarten, dass die Hisbollah nur dann militärisch eskalieren wird, wenn dies ihren eigenen innenpolitischen Bestrebungen entspricht. Dabei ist von Bedeutung, dass die Hisbollah versuchen wird, an die Befriedung ihrer Beziehungen zu den drusischen Parteien und Milizen anzuknüpfen. Vor drei Jahren war es der Hisbollah gelungen, den seit über 15 Jahren schwelenden Konflikt zwischen den beiden grossen Machtblöcken im Südlibanon einzudämmen und durch neue Kooperationsstrukturen zu ersetzen. Führende drusische Politiker haben nun erkennen lassen, dass sie diese Annäherung in Frage gestellt sehen. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Machtblöcken in der südlibanesischen Gesellschaft wird aber auch durch die Entwicklungen in Syrien schwer belastet, wo das Assad-Regime mit Unterstützung der Hisbollah versucht, die militärische und politische Kontrolle über die drusische Provinz al-Suwaida zurückzugewinnen.
Hamas im Wandel?
Noch schwieriger ist es, die Zukunft der Hamas vorherzusagen. Sprecher der Organisation machen deutlich, dass eine Nachfolgeregelung für den ermordeten Politbürochef Haniya erst zu einem späteren Zeitpunkt diskutiert und entschieden werden soll. Wichtiger ist im Moment, ob die Hamas versuchen wird, die indirekten Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln fortzusetzen, oder ob die Hamas jetzt sagen wird, dass es mit den Verantwortlichen für die Ermordung keine weiteren Verhandlungen geben kann. Die Hamas wird darauf verweisen, dass Israel bisher nicht die Verantwortung für die Tötung Haniyas übernommen hat. Dies kann so verstanden werden, dass die israelische Regierung versucht, eine Tür für Verhandlungen offen zu halten, indem sie dem Vorwurf, für den Tod Haniyas verantwortlich zu sein, entgegentritt, ohne die Verantwortung explizit zurückzuweisen. Ob die Hamas diese Situation nutzen wird, um einen Politikwechsel einzuleiten, ist völlig offen. Immerhin galt Haniya als jemand, der zwischen der radikalisierten Militanz der Hamas in Gaza (Jahja al-Sinwar) und der teilweise sogar pragmatisch ausgerichteten Politik der Auslandsabteilung der Hamas (Khalid Masch’al) hin und her pendelte, aber auch vermittelte. Zwischen diesen drei Flügeln wird sich auch die Frage der Nachfolge Haniyas entscheiden. Die komplizierte, teilweise klandestine Machtstruktur der Hamas macht es nicht leicht, Prognosen über die Zukunft der Organisation zu stellen.
Militärisch stellt die Hamas keinen wirklichen Machtfaktor mehr dar. Es ist davon auszugehen, dass die Organisation nun enger mit der Hisbollah kooperiert und stärker auf die Unterstützung des Palästinensischen Islamischen Dschihad, der eigentlichen iranischen Stellvertreterorganisation unter den palästinensischen Gruppen, angewiesen sein wird. Eine militärische Reaktion ist daher eher im Westjordanland zu erwarten. Für alle Beteiligten wird es immer schwieriger, das Konfliktgeschehen zu kontrollieren. Strategische Absichten und Zielsetzungen sind nicht mehr erkennbar, hingegen sind die einzelnen Konfliktfelder und Beteiligten so miteinander verwoben, dass ein kleines Ereignis sogar gegen den Willen der Beteiligten zu einem grossen Desaster, zu einer Tragödie führen kann.