Mit dem Fall von Falludscha im Irak und der Einnahme von Menbidsch in Syrien, beide bisher in den Händen des IS, rückt die Zeit näher, in denen die beiden wichtigsten Städte des IS – Mosul im Irak und Raqqa in Syrien – zu Kriegsfronten werden. Raqqa ist die offizielle Hauptstadt des „Kalifates“, Mosul seine grösste Stadt mit einst zwei Millionen Bewohnern.
Im Irak sind es die irakische Armee im Südwesten von Mosul und die irakischen Kurden im Südosten der Stadt, die im Begriff sind, die umliegenden Dörfer und Ortschaften zu besetzen und die Ausgangspunkte zu beziehen, von denen aus die Offensive gegen die Stadt geführt werden soll.
In Syrien sind es die syrischen Kurden, unterstützt von amerikanischen Kampfjets, die darauf ausgehen, den Raum nördlich von Raqqa in Besitz zu nehmen und sich der Stadt vom Norden her zu nähern. Die syrische Armee ist nicht in der Lage – und möglicherweise auch nicht daran interessiert – an der Offensive gegen Raqqa teilzunehmen. Sie ist mit der Belagerung von Aleppo beschäftigt. Doch die russische und die amerikanische Luftwaffe stehen beide im Einsatz gegen Raqqa.
Eigeninteressen der Kurden
Die irakischen und die syrischen Kurden haben gemeinsam, dass es ihnen nicht so sehr um die beiden Grossstädte geht, auf die sie vorrücken, als vielmehr darum, die ganz oder teilweise von Kurden bewohnten Gebiete im Norden Syriens und im Osten von Mosul in Besitz zu nehmen. Diese Gebiete in der Provinz Ninewa gelten im Irak als „umstrittene Zonen“. In Syrien ist unklar, wie weit die kurdischen Gebiete von der türkischen Grenze nach Süden reichen und damit zu den Gebieten zählen, welche die syrischen Kurden für ihren geplanten Staat oder Teilstaat Rojawa beanspruchen.
In beiden Fällen gibt es eine lange konfliktive Vorgeschichte, weil die arabischen Regierungen von Damaskus und von Bagdad während Jahrzehnten dahin wirkten, dass arabische Bauern und Stämme die kurdischen ersetzten und sich deren Land aneigneten. Die Kurden sehen sich daher als berechtigt, nun ihrerseits die Araber aus jenen Ortschaften und Orten zu entfernen, die ihnen als ursprünglich kurdisch gelten.
Den IS in den beiden Grossstädten zu schlagen und aus ihnen zu vertreiben, ist den Kurden nur insofern wichtig, als der IS, solange ihm Macht verbleibt, stets ein Feind und eine Gefahr für die benachbarten Kurden bleiben wird. Die Belagerung dieser Städte wird daher für die kurdischen Kräfte wichtig genug sein, um dabei mitzuhelfen. Doch sie werden fordern, dass auch andere – arabische – Kämpfer zusammen mit den ihrigen eingesetzt werden, um diese arabischen Städte vom IS zu befreien.
Bevorstehender Verzweiflungskampf des IS
Im Irak besteht diese zweite – arabische – Kraft aus der irakischen Armee sowie aus den schiitischen Milizen der sogenannten „Volksmobilisation“, die in Bagdad und im irakischen Süden rekrutiert worden sind, als die irakische Armee im Sommer 2014 zusammenbrach und der IS Bagdad und Erbil bedrohte.
In Syrien ist die Regierungsarmee zu sehr mit Aleppo beschäftigt, um für eine Raqqa-Offensive eingesetzt werden zu können. Doch gibt es nach wie vor Einheiten der syrischen Armee, die weiter unten am Euphrat in Teilen der Stadt Deir az-Zor und ihrem Flughafen eingekreist sind und dort gegen den IS kämpfen.
Es ist zu erwarten, dass der IS sich in beiden Städten zäh verteidigen wird. Er hatte reichlich Zeit, sich auf die Belagerung vorzubereiten, und seine Kämpfer haben keinen anderen Ort mehr, an den sie sich zurückziehen könnten. Dies lässt an beiden Orten einen Verzweiflungskampf erwarten, der monatelang dauern könnte.
Die verbliebenen Zivilisten werden in beiden Städten schwer zu leiden haben. Zerstörungen im grossen Stil sind zu erwarten. Eine Fluchtbewegung aus beiden Städten hat schon eingesetzt. Sie wird sich zu Strömen von Flüchtlingen ausweiten, wenn die Belagerung ernsthaft beginnt. In Raqqa dürften zur Zeit noch mehrere Hunderttausend Menschen leben, in Mosul vielleicht eine Million.
Sunnitische Städte von Schiiten „befreit“
Die irakischen Städte, die bisher vom Joch des IS befreit worden sind – Ramadi, Falloudscha und schon zuvor Beiji, Tikrit sowie die Städte der Provinz Diyala – hatten alle unter dem Umstand zu leiden, dass sie von Sunniten bewohnt, aber von Schiiten befreit wurden. Die schiitischen Milizen und auch die überwiegend schiitische Armee des Iraks neigen dazu, die „befreiten“ Sunniten misstrauisch zu behandeln. Es ist schliesslich nie klar, ob und wieweit sie mit dem IS zusammengearbeitet haben.
Der IS genoss ursprünglich in vielen sunnitischen Orten Sympathie, weil er im Namen des Sunnismus kämpfte und seine Religionsgenossen „befreite“. Diese hatten zuvor unter Diskriminierung vonseiten der schiitischen Bagdader Regierung und ihrer Behörden gelitten und gegen sie demonstriert. Diese Anfangssympathien waren jedoch verflogen, als die tyrannische Natur des IS-Regimes immer klarer hervortrat. Opportunisten, die dennoch zum IS hielten, gab es natürlich weiterhin.
Verdächtigte Sunniten
Die schiitischen Befreier suchten zwischen verkleideten IS-Kämpfern, IS-Sympathisanten, Mitläufern und den notgedrungen schweigenden Gegnern des IS zu unterscheiden. Ohne Zweifel gibt es unter den in den Städten verbliebenen oder aus ihnen geflohenen Zivilisten Personen, die weiterhin dem IS anhängen und die daher in Schläferzellen hinter der Front gefährlich werden könnten. Dies gab solchen Nachforschungen der Befreier eine gewisse Berechtigung. Doch allzu oft wurden alle Sunniten unter Generalverdacht gestellt. Dann hiess es: „Beweise mir, dass du nicht zum IS gehörst!“ Der Besitz von Geflohenen wurde oft unter dem Vorwand geplündert, dass es sich bei den Flüchtigen um IS-Sympathisanten gehandelt haben müsse.
Im Fall von Falludscha, wo die eigentliche Belagerung nach Monaten der Vorbereitungen von Ende Mai bis Ende Juni 2016 andauerte, hatte aus diesen Gründen die Regierung al-Abadis unter Anraten, wenn nicht gar Druck der Amerikaner dafür gesorgt, dass die Schiiten-Milizen nicht in die belagerte Stadt vordringen sollten. Sie wurden angewiesen sich damit zu begnügen, die zuerst eroberten Ortschaften im Umfeld der Stadt zu besetzen und abzusichern, so dass der IS nicht in sie zurückkehren könne.
Flüchtlinge in der Hand der Milizen
Dadurch wurden die Bewohner der Stadt, die unter der Belagerung aus Falludscha flohen, von den ausserhalb stationierten Milizen in Empfang genommen. Diese gingen dazu über, die Männer von den Frauen zu trennen. Die Männer ab 15 Jahren wurden in besondere Lager verbracht, um dort auf Zugehörigkeit zum IS untersucht zu werden.
Dabei scheint es nicht ohne Schläge und möglicherweise Schlimmeres abgegangen zu sein. Human Rights Watch spricht von glaubwürdigen Aussagen, wonach es zu Schlägen, Folterungen, summarischen Hinrichtungen, Verschwindenlassen, sogar Leichenschändung gekommen sei.
Nachdem die regulären Polizeikräfte und Elitetruppen eingriffen, wurden manche der Abgesonderten bereits wieder zu ihren Familien zurückgeschickt. Doch andere blieben bis heute gefangen – oder sind vielleicht nicht mehr am Leben. Die Familien wissen nicht, was mit ihnen geschah.
Allseitige Befürchtungen
Hinzu kommt, dass den Flüchtlingen aus Falludscha verboten wurde, nach dem 70 Kilometer entfernten Bagdad zu reisen, solange sie niemanden haben, der für sie bürgt. In ihre „befreite“ Stadt heimzukehren, bleibt ihnen bis heute ebenfalls versagt, weil dort immer noch die vom IS gelegten Minen und Sprengfallen zu fürchten sind. Ganz oder teilweise unversehrt gebliebene Häuser laufen Gefahr, geplündert zu werden, solange sie leerstehen und ihre Besitzer nicht in sie zurückkehren können. Damit nicht genug: Manche Milizen wollen das eroberte Falludscha nicht räumen, da sie der Armee alleine nicht zutrauen, die Stadt vor erneuter Infilterung durch den IS bewahren zu können.
Natürlich haben die Bewohner von Mosul davon gehört, wie es bei der Rückeroberung und in der Folge davon in Falludscha zuging, vielleicht sogar in übertriebener Form. Sie fürchten nun, es werde bei ihnen ähnlich zugehen wie dort, wenn nicht noch schlimmer.
Was Raqqa angeht, so sind die Folgen einer zu erwartenden „Befreiung“ noch weniger klar als in Mosul. Wer wird die Stadt nach der Vertreibung des IS beherrschen? Die Kurden? Die Rebellen gegen Asad, und wenn sie, welche ihrer einander feindlichen Gruppen? Die syrische Armee und die syrischen Geheimdienste? Oder gar alle zusammen, ein jeder in seinem in Ruinen liegenden Stück der Stadt, von dem aus sie sich dann gegenseitig bekämpfen?
Zurück zum Untergrundkampf
Es ist zu erwarten, dass die überlebenden IS-Kämpfer nach dem Verlust beider Städte ihren Kampf nicht aufgeben werden. Sie werden sich in der Wüste verstecken und in den sunnitischen Ortschaften Untergundzellen bilden, um mit Selbstmordanschlägen und Überfällen weiter zu kämpfen. Je chaotischer die Zustände in den „befreiten“ einstigen Hauptstädten ihres „Kalifates“ sein werden, desto besser für den IS. Jene Bevölkerungsteile, die sich misshandelt sehen, werden den besten Wurzelgrund für terroristisch operierende IS-Kämpfer abgeben.
Deshalb wird, selbst wenn die beiden Hauptstädte fallen, der Krieg gegen den IS nicht vorbei sein. Voraussetzung dafür, dass er wirklich endgültig zu Ende ginge, wären politische Lösungen der Grundfragen, die der Zusammenbruch der beiden bisherigen Nationalstaaten – vollständig in Syrien und teilweise im Irak – aufwirft.
Für das Zusammenleben von Schiiten und Sunniten, von syrischen Kurden und Arabern, von Türken und Kurden im nordsyrischen und im osttürkischen Grenzraum, von Alewiten und Sunniten in syrischen Westen – von den vielen kleineren Minderheiten in beiden Staaten gar nicht zu sprechen – muss eine Regelung gefunden werden, die allen Seiten als annehmbar erscheint. Nur so kann es gelingen, den islamistischen Jihadisten endgültig das Handwerk zu legen.