Ich erinnere mich an einem Sonnenaufgang auf der Rigi, dem königlichen Berg nahe dem patriotischen Zentrum unseres Landes, dem wir in wenigen Tagen mit immer mehr Lärm und weniger Inhalt unseren jährlichen Tribut zollen werden. Meine damalige Forschungsgruppe hatte am Vortag auf Rigi Kaltbad über die nächsten Schritte in der wasserphysikalischen Forschung diskutiert.
Nach kurzem Schlaf waren einige Unentwegte noch in der Dunkelheit zum Gipfel aufgebrochen, über uns ein funkelnder Sternenhimmel. Seit Jahrtausenden oder gar Jahrmillionen aus unvorstellbarer Entfernung unterwegs, hat uns das Sternenlicht viele Geheimnisse über das Universum preisgegeben und von Orten und Zeiten erzählt, die der Mensch physisch nie erreichen wird.
Unbekanntes unter den Oberflächen
Langsam tauchten aus der Dämmerung die hellen Oberflächen der Seen auf. Mindestens fünf der grösseren Schweizer Gewässer erspähten wir, direkt unter uns den bizarr geformten Vierwaldstättersees, den wir während der letzten Jahre mit unseren Messsonden „belauscht“ und zu verstehen versucht hatten. Seltsame Strömungsmuster und regelrechte Wasserfälle zwischen den Seebecken hatten wir entdeckt, nur 200 Meter unter der Wasseroberfläche und doch der direkten Erfahrung des Menschen entzogen.
Trotz seiner physischen Grenzen hat sich der Mensch ein enormes Wissen über seine Welt angeeignet. Mit künstlichen Sinnesorganen wie Fernrohr und Mikroskop sowie mit seiner Fähigkeit, mittels Theorien aus wenig Information ein Ganzes zu machen, hat er Distanzen und Zeiten in allen Richtungen überwunden – fast in allen Richtungen.
Denn was wissen wir von den Tiefen unserer Erde? Informationsträger wie das Licht der Sterne aus dem All kommen nur spärlich aus den Tiefen unseres Planeten. Seismische Wellen, von Erdbeben oder künstlich durch den Menschen hervorgerufen, geben einige Informationsbrocken preis. In den Tiefen des Meeres lassen sich wenigstens mit vernünftigem Aufwand Wasserproben entnehmen und Sonden absenken, aber Erdproben aus den tieferen Schichten der festen Erde sind selten. Eine Tiefbohrung von 10 km kostet die Forschung ein Vermögen, und dann ist es nur eine einzige. Unser Wissen über die Welt ist abhängig von der Richtung, in der wir schauen.
Wasser in den Tiefen
Wissen wir zum Beispiel, wieviel Wasser unter der Erdoberfläche gespeichert ist und wie rasch es erneuert wird? Auf ungefähr zehn Millionen Kubikkilometer (in Liter ausgedrückt wäre das eine Eins mit 19 Nullen) schätzt man das Boden- und Grundwasser in den obersten zwei Kilometern der Erdkruste; 10 bis 20 Prozent davon ist Süsswasser und damit für den Bedarf des Menschen nutzbar, aber genaue Zahlen gibt es nicht.
Das übrige Grundwasser, so wie auch das Meerwasser, das mengenmässig das Grundwasser um mehr als das Tausendfache übersteigt, ist so stark mit Salzen angereichert, dass es für Landpflanzen und -tiere ungeeignet ist. Nur im Polareis ist mehr Süsswasser gespeichert (29 Millionen Kubikkilometer), während es die Süsswasserseen und Flüsse lediglich auf rund 0,1 Millionen Kubikkilometer bringen.
Das mittlere Alter des Grundwassers wird auf über tausend Jahre geschätzt, Grosse Wasservorkommen ruhen seit mehr als 30'000 Jahren im Boden. In vielen Trockengebieten werden heute „fossile“ Grundwasser genutzt, die während der letzten Eiszeit entstanden sind. In den wenigsten Fällen weiss man wirklich, welche Mengen man nachhaltig, also langfristig, entnehmen kann. Wie Blinde stochern wir manchenorts im Untergrund herum. Landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte laufen Gefahr, buchstäblich auf Sand gebaut zu werden.
Anisotropes Wissen
Ist es nicht seltsam? Dank GPS haben wir die Oberfläche unseres Planeten millimetergenau vermessen, können dank Google Street View jederzeit in den Vorgarten eines Unbekannten im fernen Australien schauen, aber über den Untergrund, auf dem wir stehen und gehen, wissen wir weniger als ein Mensch der Antike über den afrikanischen Kontinent. Der Physiker nennt eine Eigenschaft, welche von der Richtung abhängt, anisotrop.
Unser Wissen über die Erde ist extrem anisotrop: Entlang der Horizontalen bleibt uns kein Steinchen verborgen, entlang der Vertikalen wissen wir so gut wie nichts. Wer weiss, nur wenige Meter unter unseren Füssen liegen vielleicht wichtige Spuren, welche unsere Vorfahren hinterlassen haben, Werkzeuge, Häuser, Wege, Kultstätten.
Auch im übertragenen Sinn ist unser Bewusstsein anisotrop: Täglich erfahren wir über die Medien, was jetzt, gleichsam in der zeitlichen Horizontalen, an Gutem und Schlechtem irgendwo auf unserer Erde passiert. Bilder vermitteln uns Eindrücke über das Leben in andern Ländern, über Kriege, Elend, Gräuel, aber auch über Zeugnisse der Anteilnahme, der Hilfe und Nächstenliebe. Blicken wir aber in die Vertikale, in unsere Vergangenheit, so bleiben wir im undurchdringlichen Dickicht der Geschichte schon bald stecken.
Das Erdinnere und die Vergangenheit
Natürlich liefert uns die Geschichtsforschung eine Fülle an Informationen über das, was in unserem Land, in Europa und in der Welt in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden geschehen ist. Aber das so vermittelte Bild ist immer auch konfektioniert, kaum auf den einzelnen Menschen gerichtet, es sei denn, er sei eine wichtige Persönlichkeit gewesen. Was wissen wir tatsächlich über die Menschen, die vor vielen hundert Jahren an den Ufern des Vierwaldstättersees ums Überleben kämpften? – Was weiss ich von meinen eigenen Vorfahren, deren Gene ich in mir trage?
Bis zu den Grosseltern haben die Personen vielleicht noch ein persönliches Gesicht, aber schon die Urgrosseltern sind kaum noch fassbar. Wie haben meine Vorfahren, die in St. Niklaus siedelnden Walser, im 16. Jahrhundert die Gegenreform erlebt, als sich Familien entzweiten und die Anhänger des protestantischen Glaubens durch das Goms und über die Grimsel ins Oberhasli vertrieben worden sind und in Guttannen und später in Unterseen eine neue Existenz aufbauten? Wie gesagt: Natürlich weiss auch darüber die Geschichtsschreibung, gestützt auf zahlreiche amtliche Dokumente und persönliche Zeugnisse, einiges zu erzählen, aber die Konturen der Individuen, meiner Vorfahren vor zehn oder fünfzehn Generationen bleiben genau so im Dunkeln wie der Boden unter meinen Füssen.
Staunen
Ein erster Lichtstrahl auf einer fernen Bergspitze im Osten reisst mich aus meinen Gedanken – gleich wird das grosse Schauspiel beginnen. Kein Laut ist zu hören, als sich der oberste Rand der Sonne zwischen zwei Bergzacken in den Himmel schiebt. Aber in meinem Innern erklingen, als sässe ich im Kino, die mächtigen Töne zum Sonnenaufgang aus der Alpensinfonie von Richard Strauss. Auch wenn sie für den Wissenschaftler nützlich sind, unsere künstlichen Sinnesorgane, so gibt es zum Glück Dinge, über die wir auch ohne Messinstrumente einfach staunen dürfen.