Vergangenen Sommer ist einer der grossen Theatermänner Deutschlands, Ivan Nagel, 80 Jahre alt geworden. In Zusammenhang mit diesem Geburtstag gibt der Suhrkamp Verlag einen Teil seiner Texte zu Theater, Kunst und Politik heraus. Die „Schriften zum Drama“ befassen sich theoretisch, essayistisch und immer kritisch mit dem Theater von den alten Griechen über Shakespeare, Lessing, Goethe bis Elfriede Jelinek, wobei ein Zeitraum von 50 Jahren geöffnet wird.
Glanzvolle Biografie
Nagel, aus einer jüdischen Familie in Budapest stammend, studierte in Zürich, Paris, Heidelberg und zuletzt bei Adorno in Frankfurt Literaturwissenschaft und Philosophie, war Theater- und Musikkritiker, Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, Intendant des deutschen Schauspielhauses Hamburg, später des Staatsschauspiels Stuttgart; er gründete das Festival „Theater der Welt“ und war zuletzt Professor für Geschichte und Ästhetik der Darstellenden Künste an der Universität der Künste in Berlin.
Eine beindruckende Biografie, die noch zusätzlich an Glanz gewinnt, wenn man bedenkt, dass Nagel stets mit den besten Regisseuren Europas in Kontakt war, sei es als Förderer und Auftraggeber, sei es als Interpret und Kritiker.
Theater - wie für andere Essen und Trinken
Nagel ist ein anspruchsvoller Schreiber – das muss gesagt sein. Er verlangt seinem bemerkenswerten Scharfinn alles ab, was der an Gedanken und Spekulationen zu bieten hat, liebt es, in alle Richtungen zu argumentieren, kennt keine ideologischen Scheuklappen und treibt das Ideenspiel mitunter weit hinauf in luftige Höhen, so dass man den Gegenstand, um den es geht, aus den Augen zu verlieren droht. Aber Nagel verfügt über zwei Eigenschaften, die den Leser immer aufs Neue zu fesseln vermögen: Da ist zum einen die Leidenschaft, mit der alles, was mit Theater zu tun hat, verhandelt wird.
Für diesen Autor, das spürt man schnell, ist Theater eine Notwendigkeit, ein existentielles Muss, wie für andere Essen und Trinken. Eine derartige Leidenschaft wirkt ansteckend. Zum andern ist Nagel dort, wo er beschreibt, nicht theoretisiert (und das geschieht oft), ein ausgesprochen sinnlicher Schreiber, einer der das physische Erlebnis von Bühne und Szene adäquat in Sprache zu verwandeln versteht.
Ein Credo mit Folgen
Ein Credo, das sich durch die meisten Aufsätze zieht, dient der Definition und Charakterisierung des Dramas allgemein und wird an zahlreichen Beispielen, Aufführungen festgemacht: Das Drama kann nur in der Inszenierung, im Schauspieler, in der Aufführung wirklich und richtig existieren, in einer Erscheinungsform also, auf die der Dramatiker oft keinen Einfluss nehmen kann. Dieses Credo macht Nagel zur Richtschnur seiner Aufführungsbeschreibungen und –interpretationen.
So vehement und eloquent er die ewigen Rufe nach text- beziehungsweise werktreuen Aufführungen bekämpft, welche es nicht geben kann und die doch so regelmässig wie das Amen in der Kirche nach jeder ungewöhnlichen, experimentierfreudigen Inszenierung einer klassischen Vorlage ertönen, bis heute, so heftig und polemisch wendet er sich gegen modisch-kunstgewerbliche Arbeiten, die dem oberflächlichen Effekt und Reiz Sinn wie Inhalt opfern.
Nagel plädiert fürs genaue Lesen, das aus bedeutenden Texten, seien sie alt oder jung, neue Einsichten für die Aufführung gewinnt und so dem jeweiligen Stück zu einer Wiedergeburt verhilft. Seine Zeugen für diese Art von Theater sind Regisseure wie Fritz Kortner oder Peter Stein, Robert Planchon oder Luc Bondy, Patrice Chéreau oder Peter Sellars.
Auch der Kritiker verändert sich
Etwas vom Spannendsten und Ergiebigsten in der Aufsatzsammlung sind die Rückblicke auf und die Wiederbeschäftigung mit besonders eindrücklichen Aufführungen oder Texten. Die Mehrzahl der Theaterliebhaber schaut sich eine Aufführung einmal an – und wird deshalb nicht mitbekommen, wie eine Aufführung lebt, weiterlebt, wie sie sich entwickelt, verändert, wie sie altert oder sich verjüngt, wie sie schneller, langsamer, lauter, leiser wird.
Den Profi Nagel scheint gerade das, das Weiterleben eines Theaterabends, das Fortbestehen in der Zeit zu interessieren. Steins berühmte „Tasso“-Inszenierung schaut er sich anlässlich der Premiere 1969, dann zwei Monate später und schliesslich nach 37 Jahren (in einer Fernsehaufzeichnung) an. In den zwei Monaten nach der Premiere hat sich die Aufführung verändert, findet Nagel; in den 37 Jahren hat sich der Kritiker verändert. Er sieht andere Dinge, wertet anders.
Erstaunliches Fazit: Ein magischer Moment auf der Bühne verliert auch nach Jahrzehnten, in verändertem gesellschaftlichen und theatralen Kontext, ja selbst in der Behelfsform einer Fernsehaufzeichnung nicht an Wirkung – das lernt Nagel und der Leser mit ihm aus dem Experiment.