Das Wohlstandsmodell des Westens gerät ins Wanken. Die Erkenntnis, dass ewiges Wirtschaftswachstum auch auf der Ausbeutung der Erde basiert und somit den Klimawandel mitverschuldet, ist evident.
Dies ist eine unschöne Beobachtung. «Immer mehr desselben» funktioniert nicht mehr. 50 Jahre nach Erscheinen des Berichts «Die Grenzen des Wachstums» (Club of Rome, zur Lage der Menschheit, 1972) beginnen wir zu realisieren, was gemeint ist. Oder haben wir vergessen, unsere vergangenheitsgeprägten Denkmuster auf die Tauglichkeit in der Gegenwart zu prüfen? Immer deutlicher wird sichtbar, dass unsere Sichtweise von damals – in einer sich rasch verändernden Welt – zur Problemlösung untauglich ist. Wir müssen lernen, neu (aus der Zukunft) zu denken.
Eine Einladung
Maja Göpel, *1976, arbeitet seit 25 Jahren als Politökonomin und Nachhaltigkeitswissenschaftlerin an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Sie appelliert in ihrem neuen Buch «Unsere Welt neu denken» an uns alle, uns bewusst zu werden, was neu denken heisst: «Zu erkennen, was man tut, und zu fragen, warum. Darin liegt die Chance, nämlich die, zu lernen.» Darunter versteht die Autorin – bis Juli 2021 Wissenschaftliche Direktorin am Hamburger The New Institute – das Experimentieren mit abweichenden Antworten und so das Zurückgewinnen von Freiheit und Gestaltungskraft. Darin sieht sie die grosse Möglichkeit, «neue Originale» anstelle der «altgedienten Kopien» zu schaffen. Deshalb schrieb sie dieses Buch. «Es ist der Versuch, die grossen Linien des heute zu spürenden Zeitenwandels in möglichst zugängiger Form darzulegen und ein paar Ideen und Sichtweisen anzubieten, die zwischen den scheinbar unauflöslichen Positionen der Bewahrenden und Blockierenden vermitteln.» Damit wir Orientierung und Mut in den Suchprozess nach einer gemeinsamen nachhaltigen Zukunft bringen können.
Der ökologische Fussabdruck
Der Begriff des ökologischen Fussabdrucks ist nicht neu. Doch noch immer wissen viele Menschen nicht, was damit gemeint ist. Es ist der wissenschaftliche Indikator, der misst, wie sich das Leben, das ein bestimmter Mensch – neuerdings auch Unternehmen und Konzerne – führt, auf den Planeten niederschlägt. Es gibt längst Beurteilungshilfen, um sich und andere zu messen … (Testen Sie: «Globalance World»).
Seit Mitte der Siebzigerjahre liegt dieser Fussabdruck der Menschen nicht mehr innerhalb dessen, was die Erde hergibt, sondern konstant darüber. Somit ist die Ausbeutung der Natur zum Dauerzustand geworden. Was ist und nicht, was früher einmal war, gilt es zu beachten. Es ist auch keine Entschuldigung mehr, wenn wir darauf hinweisen, dass früher während Jahrtausenden die Erde als Planet galt, der über unbegrenzte Ressourcen verfügt.
Die neue Realität ist spätestens mit jenem Tipping-Point erreicht worden, als der Natur die Fähigkeit genommen wurde, sich verlässlich zu regenerieren. Wer in dieser Realität leben will, muss sie anerkennen, «sonst lebt er oder sie in einer Scheinwelt». Göpel verweist darauf, dass genau diese Scheinrealität in unseren Diskussionen um die Klimakrise und nachhaltige Entwicklung überwiegend der Fall ist.
Rom und Glasgow 2021
Ich möchte als neueste Beispiele den G-20-Gipfel in Rom vom Oktober 2021 und die Weltklimakonferenz in Glasgow vom November 2021 nennen. Bundesrätin Simonetta Sommaruga zeigte sich enttäuscht über den Ausgang von COP26. Das Abschlussdokument kam nur zustande, nachdem wesentliche – relativ konkrete – Passagen in letzter Minute gestrichen worden waren, sonst wäre eine Annahme des Glasgower Klimapakts nicht möglich gewesen. Indien fiel negativ auf, die USA und Grossbritannien überraschten positiv. Konkrete Massnahmen blieben Mangelware, geäusserte Ambitionen und Aufrufe dominieren. Zur Erinnerung die Worte Göpels: «Zu erkennen, was man tut, und zu fragen, warum. Darin liegt die Chance, nämlich die, zu lernen.» Oder jene von Greta Thunberg: «Seit über 30 Jahren ist sich die Wissenschaft einig. Wie könnt ihr es wagen, wegzuschauen und zu sagen, dass ihr genug tut, während keine Lösungen in Sicht sind?»
Kreislaufwirtschaft statt Ausbeutung
Anhand unzähliger Beispiele aus der heutigen Praxis versucht die Autorin, uns den Unterschied zwischen ausbeuterischem und nachhaltigem Verhalten zu erklären. So beschreibt sie z. B. eindrücklich den langen Weg vom Bankivahuhn, das ursprünglich in Süd- und Südostasien beheimatet war, bevor es der Mensch domestizierte. Heutige Legehühner legen im ersten Jahr bis zu 330 Eier, ein zweites Jahr ist nicht mehr vorgesehen. «So funktioniert das System, nach dem allein in Deutschland in einem Jahr 12 Milliarden Eier produziert und 650 Millionen Hühner geschlachtet werden – und 45 Millionen Küken geschreddert. Und dann im nächsten Jahr wieder.»
Nachhaltig wären, so die Autorin, Systeme, die in der Natur vorkommen, durch hohe Diversität gekennzeichnet sind und in einem Kreislauf funktionieren. Im natürlichen System gibt es niemanden, der etwas rausnimmt, ohne es in einer weiter verwertbaren Form wieder zurückzugeben. Aus dem ursprünglichen Kreislauf wird heute ein Förderband: Vorne wird abgebaut, dann verbraucht und hinten entsteht Müll, der verbrannt, verbuddelt, aufgetürmt wird und schliesslich im Meer und auf den Flüssen schwimmt. Nicht erstaunt, dass Göpel auch die Bekleidungsindustrie aufs Korn nimmt: Diese verursacht jährlich 92 Millionen Tonnen Müll, der verbrannt wird, weil das das Billigste ist.
Immerhin sind bei uns in der Schweiz erste Bemühungen in Gang gekommen, die sich um ein Recycling solcher «Abfälle» bemühen. Diese meine Bemerkung möchte auf einen Mangel der Göpelschen Weltbetrachtung hinweisen: Allzu sehr verharrt diese, nach meiner Meinung, im Beschrieb des Negativen, ohne aufkeimende, neue und positive Beispiele zu nennen. So kritisiert sie das ökonomische Denken in Lebensbereichen, die ursprünglich nichts mit der Wirtschaft zu tun hatten. Fallpauschalen in Spitälern oder: aus dem Nachwuchs muss «etwas werden» oder: Yoga statt Burn-out – man kann darin auch positive Trends erkennen.
Nachhaltig wirtschaften
Göpel zieht neben einer ganzen Anzahl von Ökonomen auch Mariana Mazzucato (*1968), italienisch-amerikanische Wissenschaftlerin, aktuell Professorin am University College in London, zu Rate. In ihrem Buch «Wie kommt der Wert in die Welt?» geht Mazzucato der Frage nach, wie sich seit dem 19. Jahrhundert (Adam Smith und David Ricardo) die Ermittlung der Wertschöpfung verändert hat. Ursprünglich etwa als Land oder Materialien definiert, ist inzwischen der Marktpreis massgeblich, also reine Verabredung. «Wenn jemand bereit ist, für ein neues Krebsmedikament 15’000 Euro zu zahlen, ist es das ‹wert› und darf der Preis von den Krankenkassen verlangt werden.» Ob das neue Produkt gegenüber dem alten kaum verändert ist, spielt keine Rolle. «Der Preis spiegelt also eher das Nutzen einer Machtposition als die Schaffung von Mehrwert wider.»
Das «Manager Magazin» spricht davon, wie Mazzucato «der Businesselite die Lizenz zum Auftrumpfen» entzieht. Göpel folgert daraus, dass durch Verhinderung der unverdienten Wertabschöpfung und Bilanzierung nach objektiven Wertvorstellungen eine nachhaltigere Form von Wirtschaft möglich wäre. Diese Folgerung scheint mir etwas gewagt zu sein, hat sie doch wenig Zusammenhang zu ihrer ursprünglichen Botschaft der Plünderung der Erde durch die heutigen Wirtschaftsaktivitäten.
Wie dem auch sei, Göpel gibt Beispiele für nachhaltigeres Wirtschaften, die überzeugen und die erläutern, was sie mit «neu denken» meint und welche Veränderungen machbar und wünschbar wären:
Vom Förderband zum Kreislauf
Vom Einzelteil zum System
Vom Extrahieren zum Regenerieren
Vom Wettkampf zur Zusammenarbeit (Kooperation)
Von Unwucht (Ungleichgewicht) zur Balance
Vom Geld zum Wert
Neu denken: Fortschritt und Konsum neu definieren
(Mein Zwischenruf: Fortschritt bedeutet Fortschreiten vom Ursprung …). Solange die Einbettung der Technik in Umwelt und Gesellschaft nicht mitgedacht wird, also auf Kosten wessen der Fortschritt realisiert wird, ist unser Blick getrübt, wohin die Reise führen wird. «Wir müssen unsere Vorstellung von Fortschritt ändern, sonst verschieben wir die Probleme einfach weiter in die Zukunft», folgert Göpel.
Würden wir also weniger kaufen und konsumieren, um uns nachhaltiger zu verhalten, wäre im heutigen System wohl eine Rezession die Folge. Damit dies ohne eine solche möglich würde, sind Politik und Gesellschaft stark gefordert. Nachhaltigkeit müsste nicht als «Modewort der Grünen», sondern als ökonomische Wachstumsagenda begriffen werden.
Nochmals Göpel: «Unser Konsumverhalten im reichen Westen ist nur durch die Externalisierung der Kosten möglich […]. Die Rolle und Art von Konsum in unseren Gesellschaften zu ändern ist daher ein wichtiger Schlüssel zur Nachhaltigkeit. Die Versöhnung von sozialen und ökologischen Zielen sollte dabei im Zentrum stehen.»
Gemäss Umfragen des «Tages-Anzeigers» (was immer Sie von solchen Umfragen halten …) im November 2021 «wollen Junge und SVP-Wähler nicht zahlen», gemeint sind Preiserhöhungen für Benzin oder Flugreisen, die durch das neue CO2-Gesetz notwendig würden. Derweil haben sich genau diese Marktpreise innert weniger Wochen massiv erhöht, ohne dass die gleichen Personen um Erlaubnis gefragt worden wären.
«Unsere Welt neu denken» ist eine happige Lektüre. Nur schon der Titel wird oft nicht verstanden. Doch Göpels Botschaft lässt einen nicht kalt. Es gibt viel zu tun, würde ich sagen. Ob wir in der Schweiz – mit unserer blockierten Politik – je in der Lage sein werden, staatliche klimarelevante Vorschriften (und damit nachhaltig verträgliche) überhaupt durchzusetzen, ist mehr als fraglich. Doch es bleibt die Hoffnung auf menschliche Einsicht.
Offene Chancen statt moralisierender Dystopien
Ich favorisiere optimistische, positiv stimmende Projekte anstelle von allzu demoralisierenden, negativen Zukunftsbildern bei der Beantwortung der Fragen, wie wir uns als Menschen und Gesellschaften in Zeiten des Umbruchs und Klimawandels enkelkonform verhalten sollen. «Die Traum- und Wunschhorizonte sind voller Möglichkeiten, offen […] zu restaurieren, was beschädigt worden ist. Das macht erheblich bessere Laune, als sich mit apokalyptischem Geraune wechselseitig zu ermuntern, nichts zu tun», rät uns der deutsche Soziologe Harald Welzer (*1958). Er hat eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, «ein zivilisatorisches Projekt», geschrieben. Eine Utopie des «anders Denkens» (Harald Welzer: «Alles könnte anders sein», 2019, Fischer Taschenbuch).
Maja Göpel: Unsere Welt neu denken. Ullstein, 2021, 206 Seiten