Grosse Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Der 18. Parteitag der 1921 gegründeten Kommunistischen Partei Chinas wird für die nächsten zehn Jahre die Weichen stellen. Schon heute wird in Zeitungen, Zeitschriften, am Radio und Fernsehen kommentiert, indoktriniert und analysiert. Die mit 80 Millionen Mitgliedern grösste Partei der Welt wird sich eine neue Führung geben und – dies vor allem – die Parteilinie für die kommenden zehn Jahre festlegen. Das ist für China und die Welt nicht ganz unerheblich. Was freilich – wie man in China sagt – „hinter dem Vorhang“ vor sich geht, ist trotz Internet und leidlich offenen Medien wenig transparent; um es milde auszudrücken. Kein Wunder deshalb, dass mit dem Nahen des Parteitags die Gerüchte wuchern.
Reibungsloser Wechsel der Führung
Das neueste Gerücht: Der für Oktober terminierte Partei-Powwow soll, was nach Statuten möglich ist, um wenige Monate verschoben werden. Im 300 Mitglieder zählenden Zentralkomitee, unter den 25 Mitgliedern des Politbüros und vor allem im entscheidenden neunköpfigen Ständigen Politbüro-Ausschuss soll es noch Meinungsverschiedenheiten geben. Personell und inhaltlich. Jenseits aller Gerüchte jedoch scheint schon jetzt klar, dass der Übergang zur nächsten Führungsgeneration von Staats- und Parteicher Hu Jintao und Premier Wen Jiabao auf Vize-Staatschef Xi Jingping und Vize-Premier Li Kejiang relativ reibungslos über die Bühne gehen wird.
Die Frage allerdings bleibt, ob nach dreissig erfolgreichen Reformjahren in der „sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung“ eine neues Wachstumsmodell samt etwas mehr Transparenz vom Parteitag verabschiedet werden wird. Premier Wen Jiabao hat in den letzten Monaten seiner nun zehnjährigen Regierungszeit auffällig oft einer Reform der Politik das Wort geredet. Heisst das vielleicht „Demokratie chinesischer Prägung“? Ein Blick zurück kann – nach Konfuzius – den Blick für die Zukunft schärfen.
Hunger nach Nahrung und Wohlstand
„Reich zu sein, ist glorreich“. Also sprach der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping vor etwas mehr als dreissig Jahren zu Beginn der Reform. Diese Worte waren damals nach dreissig Jahren maoistischem Klassenkampf fürwahr mutig, um nicht zu sagen politisch inkorrekt. Was der kleine grosse Deng damit sagen wollte, war allen Chinesinnen und Chinesen klar. Die Wirtschaft stand fortan wieder im Mittelpunkt und nicht mehr politische Kampagnen. Zwar war eine „rote“ Haltung noch immer gut, doch nicht mehr ausreichend, um in Partei, Staat und Wirtschaft Karriere zu machen. „Experten“ – unter Mao als „Kapitalisten“ beschimpft und als „rechtsabweichlerische“ Intellektuelle verfemt – waren wieder gefragt und begehrt. Heute sind nicht wenige Privat-Unternehmer und Milliardäre Parteimitglieder.
Dass die von Deng Ende 1978 angestossene Wirtschafts-Reform derart erfolgreich werden sollte, war nicht vorauszusehen. Das Resultat des chinesischen Experiments ist einmalig in der Weltgeschichte. China war zu Beginn der Reform aber – ähnlich wie heute Nordkorea – arm und die industrielle Infrastruktur veraltet. Chinesinnen und Chinesen waren buchstäblich hungrig. Als erstes brauchten sie ausreichend Nahrung, dann mehr Wohlstand. Deng Xiaopings pragmatische Art, die Wirtschafts-Reform anzugehen, brachte schliesslich den Erfolg. Denn Deng hatte nicht – wie im Westen üblich – einen grossen Plan, sondern nur die Überzeugung, dass der Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten nicht in allgemeiner Armut bestehen könne. Dafür prägte er das Bonmot: „Den Fluss überqueren und dabei die Steine an den Fusssohlen spüren“. Den damals immer noch mächtigen und einflussreichen Mao-Anhängern in den leitenden Gremien der allmächtigen Kommunistischen Partei Chinas schrieb er ins Stammbuch: „Es spielt keine Rolle, ob die Katze schwarz oder weiss ist, Hauptsache sie fängt Mäuse“.
Kapitalismus und Kartätschen
Allerdings hatte Deng nie etwas mit Demokratie am Hut. Der ungerschriebene soziale Kontrakt war einfach: Die Partei ist um Wachstum und stetig mehr Wohlstand besorgt, während Chinesinnen und Chinesen wenig bis keine politische Forderungen stellen. Im Westen wurde das kaum wahrgenommen. Euphorisch berichteten in den 1980er Jahren Auslandkorrespondenten vom entstehenden Kapitalismus im Reich der Mitte. Dem, so die meisten westlichen Experten und Kommentatoren, werde nach der Konvergenz-Theorie irgendwann automatisch auch Demokratie folgen.
Erste Studentenunruhen in der Provinz Anhui am Jahresende 1986 liess Deng dann ohne grosses Federlesen polizeilich unterdrücken. Zweieinhalb Jahre später liess er – zur Überraschung der westlichen Industrieländer – die Studentenproteste auf dem Platz vor dem Himmlischen Frieden Tiananmen niederkartätschen. Die von Arbeitern, Angestellten, Intellektuellen, Regierungsbeamten und Parteikadern unterstützten Proteste waren nicht zuvörderst eine Demokratie-Bewegung sondern vielmehr auf dem Höhepunkt einer überhitzten Wirtschaft mit hoher Inflation eine Demonstration für mehr Transparenz und gegen Korruption. Forderungen also, die noch heute im Reich der Mitte hoch aktuell sind.
Das "Mandat des Himmels"
Dies gilt umso mehr, als die Kluft zwischen Arm und Reich sowie Stadt und Land sich ständig vergrössert. Nicht, dass die Armen ärmer würden. Keineswegs. Auch die weniger begüterten Schichten der chinesischen Gesellschaft haben ihren Wohlstand gemehrt, doch die Reichen haben den ihren noch schneller angehäuft. Der Abstand also vergrössert sich. Wenn der Abstand zu gross wird, entstehen soziale Spannungen. Nichts fürchtet die Partei mehr als das. Wie schon Jahrunderte zuvor die Kaiser. Meist nämlich ging das „Mandat des Himmels“, also die Macht, durch soziale Unruhen verloren. Deshalb ist nach Partei-Statut das konfuzianische Konzept der „Harmonie“ oberstes Gebot. Nicht von ungefähr wird „soziale Stabilität“ derzeit in China bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten von den „Massen“ angemahnt.
In den kommenden Wochen und Monaten wird nicht nur Chinas Wirtschaft und Gesellschaft Anlass für Schlagzeilen geben. Auch der anstehende Führungswechsel sowie Gerüchte werden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Nicht von ungefähr, denn schliesslich generiert die bevölkerungsreichste Nation der Erde mittlerweile das weltweit zweitgrösste Brutto-Inlandprodukt und ist Export-Weltmeister. Der Parteikongress und die damit zusammenhängenden Bewegungen „hinter dem Vorhang“ sind ein präziser Indikator für die wirtschaftliche, politische und soziale Befindlichkeit der Volksrepublik. Wie die Kommunistische Partei die nächsten zehn Jahre plant, angeht und durchzieht, ist entscheidend für Chinesen und Chinesinnen. Und die Welt.