„Inzwischen ist es so weit gekommen, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, was im wahren Leben geschehen ist, was im Buch passiert und was sich im Film abspielt“, sagte Carl Bernstein 1986 in einem Interview mit dem Magazin „Playboy“. Er sollte nicht ahnen, dass die saloppe Aussage ihn dereinst einholen würde. In einer autorisierten Biografie des heute 91-jährigen Ben Bradlee, des Ex-Chefredaktors der „Washington Post“, enthüllt Autor Jeff Himmelman, dass Bradlee 1990 in einem Interview nicht ausschloss, dass Bernsteins Partner Bob Woodward im Buch über die Aufdeckung des Watergate-Skandals gewisse Details geschönt hatte. Der Titel der Bradlee-Biografie: „Yours in Truth“.
Zwar liegt der Einbruch ins Hauptquartier der Parteiführung der Demokraten (DNC) im Watergate-Komplex in Washington DC inzwischen 40 Jahre zurück. Die fünf Einbrecher waren damals, wie sich herausstellte, aus dem direkten Umfeld von Präsident Richard Nixon rekrutiert worden. Sie stellten sich aber an jenem Freitagabend im Juni so stümperhaft an, dass ein Wachtmann namens Frank Wills sie bemerkte und die Polizei rief. Diese verhaftete das Quintett noch in den Büros des DNC.
Als die „Washington Post“ am 18. Juni 1972 zum ersten Mal über den Vorfall im Watergate berichtete, ahnte noch niemand, dass die ganze Geschichte zwei Jahre später zum Rücktritt des amerikanischen Präsidenten führen und die Politik des Landes nachhaltig verändern würde. „Fünf in Verschwörung zur Verwanzung von Büros der Demokraten hier festgenommen“, lautete die nüchterne Schlagzeile über dem Artikel, der auf der Frontseite der Sonntagsausgabe der „Post“ erschien.
Auf der Redaktion nahmen sich zwei junge Lokalreporter des auf den ersten Blick eher unbedeutenden Einbruchs an: der 29-jährige Bob Woodward und der 28-jährige Carl Bernstein. Bei der Verfilmung ihres Buches „All the President’s Men“ sollten sie später von Robert Redford und Dustin Hoffman gespielt werden. Laut „Post“-Kollegen gestaltete sich die Arbeitsteilung zwischen den beiden wie folgt: Bob Woodward war der unermüdliche Rechercheur, Carl Bernstein der elegante Schreiber.
Von der Polizei erfuhr das Duo, dass die fünf Verhafteten aus Miami gekommen waren, dass sie Handschuhe getragen und Tausende von Dollar in Bar mit sich geführt hatten. Eine ihrer Quellen nannte den Einbruch „einen ziemlich professionellen Job“, wogegen ein Sprecher des Weissen Hauses von „einem drittrangigen Einbruch“ sprach, als bekannt wurde, dass einer der Täter, James McCord, für das Komitee zur Wiederwahl von Richard Nixon arbeitete.
Der Rest war, wie die Amerikaner sagen, Geschichte: Ein Präsident stürzte, dank hartnäckiger Recherchen zweier Reporter, die zu Helden der Nation wurden, denen eine ganze Generation junger Journalisten nacheiferte. Und die Presse sah sich bestätigt als vierte Gewalt im Staate und Wachthund der Demokratie. Watergate wurde zum Mythos, dessen Glanz noch lange strahlte und der den direkt Beteiligten Ruhm, Status und Wohlstand bescherte. Bob Woodward und Carl Bernstein wurden zu gefeierten Bestseller-Autoren, Ben Bradlee zur unantastbaren Legende. Er blieb bis 1991 Chefredaktor der „Washington Post“.
Entsprechend gross ist nun allenthalben die Aufregung, dass ausgerechnet Ben Bradlee am Lack von Watergate kratzt. Dabei stellt der frühere Chefredaktor der „Washington Post“ nicht den Kern der Watergate-Recherchen in Frage, wie die „Post“ sie publiziert hat. Gemäss Biograf Himmelman zweifelt er lediglich einige Details an, die Bob Woodward im 1974 erschienenen Buch „All the President’s Men“ beschrieben hat.
So fragt sich Bradlee, ob Woodward damals tatsächlich einen Blumentopf mit einem roten Fähnchen auf seinen Balkon stellte, um seinem anonymen Informanten „Deep Throat“ zu signalisieren, dass er ein Treffen wünschte. Der Chefredaktor der „Post“ ist sich zudem nicht sicher, ob die geheimen Treffen des Reporters mit „Deep Throat“ in einer Tiefgarage in Rosslyn (Virginia) wirklich wie geschildert stattgefunden haben.
„Hat sich diese Sache mit dem Blumentopf je so abgespielt?“, sagte Ben Bradlee 1990 in einem Gespräch mit der Rechercheurin Barbara Feinman, die ihm Fakten für seine Autobiografie „A Good Life“ sammeln half: „Und das Treffen in einer Garage. Ein Treffen in der Garage? Fünfzig Treffen in der Garage? Ich weiss nicht, wie viele Treffen in der Garage es gegeben hat…Ich hege in meiner Seele die leise Befürchtung, das das alles so nicht genau stimmt.“
In seinen Memoiren, die 1995 erschienen sind, geht der frühere Chefredaktor der „Washington Post“ allerdings nicht auf solche Zweifel ein. Er schreibt nur, er sei im Nachhinein „erstaunt“, dass er seinerzeit Bob Woodwards Wunsch respektiert habe, die Identität seines Informanten geheim zu halten. Wie erst 2005 bekannt wurde, war „Deep Throat“ Mark Felt, der stellvertretende Chef der Bundespolizei (FBI). Wobei der ehrgeizige Bürokrat, der die Presse verachtete, nicht aus selbstlosen Motiven handelte, sondern weil er seinem Chef L. Patrick Gray eins auswischen wollte und dabei auch vor Lügen nicht zurückschreckte.
Neckisch an der Geschichte ist der Umstand, dass Jeff Himmelman von 1998 bis 2002 als Rechercheur für Bob Woodward arbeitete und danach vom Chef in den höchsten Tönen gelobt wurde. Himmelman half Woodward beim Buch „Maestro“, einem Porträt von Alan Greenspan, dem Chef der amerikanischen Notenbank, das 2001 erschien. „Ein wahrhaft bemerkenswerter Mann von ungewöhnlicher Reife, Verstandeskraft und Liebenswürdigkeit“, lobte Woodward im Vorwort seinen Mitarbeiter: „Jeff ist ein Denker, der sich ein grosses Mass an Idealismus bewahrt hat…Ich betrachte ihn als Freund fürs Leben.“
Mit der schönen Freundschaft dürfte es nun vorbei sein – umso eher, als Himmelman Woodward und Bernstein auch vorwirft, während Jahren in einer anderen Sache gelogen zu haben, die ihre Berichterstattung über Watergate betrifft. Die beiden „Post“-Reporter haben stets dementiert, je illegal Informationen von Mitgliedern jener Grand Jury erhalten zu haben, die von der Justiz mit der Vorabklärung des Skandals beauftragt war. Doch hat Himmelman in Bradlees Unterlagen, die in über 60 prallvollen Kisten verstaut sind, ein Memorandum gefunden, wonach eine Geschworene namens „Z“ mit ihnen gesprochen hat. Dagegen beteuern Woodward und Bernstein, sie hätten damals die wahre Identität der Informantin nicht gekannt.
Seltsam ist Jeff Himmelman zufolge ferner der Umstand, dass unter jenen 12 oder 13 Tonbändern, auf denen Barbara Feinman 1990 ihre Gespräche mit Ben Bradlee aufzeichnete, heute just jenes fehlt, das die Bemerkungen über Bob Woodwards Blumentopf und dessen Treffen mit „Deep Throat“ in der Tiefgarage enthält. Laut einem Vorabdruck aus der Biografie im Magazin „New York“ hat Ben Bradlee Jeff Himmelman gefragt, ob er glaube, dass Bob Woodward, der sich häufig in Bradlees Haus aufhielt, das Band habe mitlaufen lassen. „Vielleicht“, antwortet Himmelman, worauf Bradlee und er gelacht hätten.
Das fehlende Tonband erinnert insofern an Watergate, als damals im Laufe der Ermittlungen Aufzeichnungen von Gesprächen, die Richard Nixon im Weissen Haus heimlich hatte anfertigen lassen, eine wichtige Rolle spielten. Die Bänder belegten klar, dass der Präsident selbst vom Einruch im DNC wusste und beim Versuch, das Verbrechen zu vertuschen, eine aktive Rolle spielte. Dabei fehlte auf einem der Bänder ein Abschnitt von 18 ½ Minuten, den Rose Mary Woods, Nixons langjährige Sekretärin, angeblich aus Versehen gelöscht hatte. Doch forensische Untersuchungen zeigten später, dass die fraglichen Passagen absichtlich gelöscht wurden.
Derweil haben Bob Woodward und Carl Bernstein Anfang April beim Jahrestreffen der American Society of News Editors in Washington DC auf einem Podium bemerkt, dass ein Skandal wie Watergate heute kaum mehr enthüllt würde, weil sich junge Journalisten allzu sehr daran gewöhnt hätten, ihre Informationen aus dem Internet zu beziehen. Als abschreckendes Beispiel erwähnte Woodward Studenten der Universität Yale, die in einem Seminar auf die Frage, wie die Watergate-Story im digitalen Zeitalter geschrieben würde, antworteten, sie würden einfach unter den entsprechenden Stichworten im Netz nachschauen. „Ich habe versucht, sie bis zu einem gewissen Grad eines Besseren zu belehren“, erzählte der 69-jährige Reporter: „Fakt aber ist: Die Wahrheit über das, was vorgeht, steht nicht im Internet. Das Netz kann ergänzen. Es kann helfen, vorwärts zu kommen. Doch die Wahrheit liegt allein in den Menschen. In menschlichen Quellen.“
Der Bericht der „Washington Post“ über den Auftritt von „Woodstein“ las sich wie ein Abgesang auf eine Ära des Journalismus, die von Watergate geprägt worden war: „Die Diskussion (neim Treffen) führte für kurze Zeit ein Paar zusammen, dessen Enttarnung der Regierung Nixon eine Generation von Journalisten inspirierte, die inzwischen entlassen oder frühzeitig pensioniert worden sind. Was Woodward und Bernstein berichteten, erinnerte an eine frühere, erspriesslichere Zeit: Vorgesetzte gaben ihnen, wie sie sagten, genügend Zeit und ermutigten sie, eine komplexe, schwer fassbare Geschichte zu recherchieren, worauf der Rest des amerikanischen Systems (der Kongress, die Justiz) den Ball aufnahm und weiter trug.“
Watergate, so erzählten Woodward und Bernstein in Washington DC, sei ein Beispiel demokratischer Teamarbeit gewesen, wie sie heute kaum mehr möglich wäre – entweder weil Zeitungen in ihren Ressourcen beschnitten und ausgehöhlt worden sind oder weil die Amerikaner ihren Appetit auf einen Journalismus verloren haben, der auch über eine Entwicklung berichtet, die sich erst anbahnt. Oder weil der Kongress in Washington DC nie so entschieden handeln und einen Präsidenten so gründlich durchleuchten würde, wie er das früher tat.
Ben Bradlee hat sich in der Causa Himmelman inzwischen hinter seine beiden Reporter gestellt. „Es gab nichts Besonderes, was Ben angezweifelt hätte“, liess seine Frau Sally Quinn, selbst Journalistin, verlauten: „Alles, was Bob (Woodward) und Carl Bernstein berichtet haben, entspricht der vollen Wahrheit. Die Story steht nach wie vor. Niemand bezweifelt Bobs Wahrhaftigkeit. Er hat unglaublich gut berichtet. Nixon trat zurück. Ich glaube, Bob ist der beste Reporter in der Geschichte des Journalismus. Diese ganze Sache kann der Bedeutung von Watergate oder Ben oder Bob oder Carl nichts anhaben.“