Ein wenig gleicht die Situation an der Spree dem Vorfeld von Waffenstillstands- Gesprächen, denen – falls gut oder zumindest doch zufriedenstellend verlaufend – Friedensverhandlungen mit dem Ziel folgen sollen, positiv die Zukunft zu gestalten. Um noch ein wenig bei dem martialischen Bild zu bleiben: Die Wahlschlacht um den Deutschen Bundestag hat mit Angela Merkel und ihren Unionstruppen zwar Sieger gesehen. Aber ob am Ende auch wirklich ein Gewinn stehen wird, ist noch keineswegs ausgemacht. Denn die gegnerischen Armeen der Sozialdemokraten und der Grünen sind zwar geschwächt. Aber zumindest eine von beiden benötigen CDU und CSU. Sonst sind auch sie handlungsunfähig.
Staats- oder Parteiwohl?
Zurück zur nüchternen Alltagssprache. Die deutschen Wähler haben am 22. September einerseits deutlich votiert, indem sie Merkel und die Union bis an die Grenze zur absoluten Mehrheit trugen. Aber eben nicht darüber hinaus. Sie haben – umgekehrt – der liberalen FDP einen vernichtenden Schlag versetzt, jedoch auch die oppositionellen Sozialdemokaten und Grünen erbarmungslos gedeckelt.
Und doch muss es der CDU/CSU irgendwie gelingen, einen der beiden Wahlverlierer (eindeutig am liebsten wäre ihr natürlich die SPD) als künftigen Regierungspartner zu gewinnen. Am Freitag, 4. Oktober sollen daher erste Sondierungsgespräche stattfinden. Nicht im Berliner Konrad-Adenauer-Haus der CDU, auch nicht im sozialdemokratischen Erich-Ollenhauer-Haus, sondern auf dem strikt neutralen Boden der sogenannten Parlamentarischen Gesellschaft.
Was immer am Ende als Ergebnis stehen wird, eines ist schon jetzt gewiss: Es wird ein hartes, zähes Ringen geben. Denn die Genossen haben nicht nur die Wahlschlappe zu verdauen, sondern zusätzlich nicht weniger als die Frage zu beantworten, ob sie dem Staats- oder dem (vermeintlichen) Parteiwohl den Vorzug geben wollen. Schon jetzt ist erkennbar, dass durch die Partei ein deutlicher Riss geht. Starke Kräfte, ja sogar ganze Landesverbände sprechen sich gegen eine so genannte Grosse Koalition mit den Christdemokraten aus. Nur mit viel Mühe und Geschick konnte SPD-Chef Sigmar Gabriel bei einem extra einberufenen Konvent die Delegierten dazu bewegen, wenigstens den Sondierungsgesprächen zuzustimmen.
Zwischen Trotz und Trauma
Freilich, nicht nur im Land schwankt die Stimmung bei den Genossen zwischen Trotz und Trauma; an der Parteispitze ist es im Prinzip nicht anders. Schon während der gesamten vorigen Legislaturperiode brannte bei SPD-Führung wie -Mitgliedern die 2009 ebenfalls von den Wählern geschlagene Wunde. Zwischen 2005 und 2009 hatten die «Sozis» (Helmut Schmidt) nicht nur mit Angela Merkel die Regierung gebildet, sondern sie stellten besonders in den Krisenzeiten der Bankenrettung die standfestesten Pfeiler. Doch am Wahltag ernteten allein Merkel, die CDU/CSU und seinerzeit sogar auch noch die Freien Demokraten die Früchte der gemeinsamen Mühsal, während der SPD das schlechteste Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte beschert wurde.
Und genau diese Kanzlerin triumphierte auch jetzt wieder, während man selbst sich mit lumpigen zwei Prozent Zuwachs zufrieden geben musste! Wieso, lautet darum landauf und landab die verbitterte Genossenfrage, sollen ausgerechnet wir ihr zur Regierungs-Majorität verhelfen? Mag sie doch zusehen, wie sie die Mehrheit zusammenkriegt! Und die Parteiführung? Auch den Damen und Herren Andrea Nahles, Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel sind diese Gefühle nicht fremd. Aber sie werden es sich nicht leisten können, einfach nur Emotionen nachzugeben. Sie kennen ihre 150 Jahre alte Partei. Wenn es darauf ankam, hat sie sich nie verweigert. Das war – leider – der Fall 1914 bei den Kriegsanleihen. Das war aber auch der Fall bei der heldenhaften und für viele folgenschweren Ablehnung von Hitlers Ermächtigungsgesetz 1933.
Die Basis hat das Wort
Doch man muss gar nicht so weit in die Geschichte zurückgehen. Auch die jetzt amtierenden Leute in der Parteiführung wissen natürlich genau, dass sich – aller negativen Erfahrung zum Trotz – praktisch nur von den Regierungsplätzen aus wirklich etwas politisch bewegen lässt. Oder, um den früheren SPD-Chef Franz Müntefering zu zitieren: «Opposition ist Mist.»
Aber die Verantwortung für die wichtigen Entscheidungen zu übernehmen, das mag sich von den Ober-Genossen denn doch niemand trauen. Deshalb ist man auf einen besonderen Dreh gekommen – die «Basis» soll das letzte Wort bekommen. Damit kann man das Zittern vor der angeblich so gewaltigen Angela Merkel kaschieren und gleichzeitig den Anspruch von besonders ausgeprägtem Demokratie-Verständnis erheben. Die Menschen, so klingt es offiziell in getragenem Ton, sollen «mitgenommen» werden.
Theoretisch hat diese Idee durchaus etwas Logisches. Die Drohung mit der möglichen basisdemokratischen Ablehnung bestimmter Politikrichtungen kann – geschickt eingesetzt – bei schwierigen Verhandlungen zu einer scharfen Waffe werden und die Gegenseite zum Einlenken, Nachgeben oder wenigstens Entgegenkommen bewegen. Aber was ist, wenn am Ende eine Mehrheit der rund 450’000 SPD-Mitglieder zum Verhandlungsergebnis wirklich den Daumen senken sollte? Wie viele würden, vielleicht sogar noch in einer aufgeheizten Atmosphäre, kühlen Verstand und nicht blosses Bauchgefühl walten lassen? Es ist ein riskantes Spiel, auf das sich Gabriel und Co. hier einlassen.
Was gibt die CDU/CSU?
Bei CDU und CSU sieht die Sache nur scheinbar entspannt aus. Das (verständliche) Hochgefühl von der Wahlnacht ist längst nüchternem Nachdenken gewichen. Auch die Gewinnerpartei wird Federn lassen müssen, will sie die SPD als Partner gewinnen. Dabei wird einer der zentralen Punkte die künftige Steuerpolitik sein.
So sehr die Sozialdemokraten während des Wahlkampfes auf die Erhöhung bestimmter Abgaben (etwa bei Spitzen-Einkommen) setzten, legte sich die Union auf das Gegenteil fest: «Mit uns nicht.» Liessen erste Äusserungen – z. B. von Finanzminister Wolfgang Schäuble – schon unmittelbar nach dem Wahltag den Verdacht aufkommen, die früheren ehernen Schwüre seien vielleicht doch nicht ganz so ernst gemeint gewesen, so klingt es mittlerweile wieder wie vorher.
Vermutlich ist inzwischen jedem in der Union klar geworden, dass diese Frage zum entscheidenden Glaubwürdigkeitstest für Christdemokraten und Christsoziale werden würde. Der Bruch dieses Wahlversprechens wäre eine Katastrophe im Verhältnis zu den Wählern. Das Koalitionspokern hat begonnen. Wie lange es dauert, ist eine offene Frage. Genauso wie die nach Sieger und Verlierer. Und die Grünen? Schau´n wir mal.