„Es ist ein Charaktertest“ sagte der Kommentator auf SRF2, „die Schweiz hat diesen Charaktertest heute nicht bestanden.“
Das war nicht lange vor der 79. Minute, als es 2:0 für Slowenien stand und die ersten Zuschauer sich schon anschickten, das Stadion zu verlassen. Mit dem Wort Charaktertest sollte wohl angedeutet werde, dass es viel starken Willens und intakter Kampfmoral bedarf, um im Fussball zu gewinnen. Oder, wie Alain Suter es vor dem Spiel ausdrückte: „Am Schluss braucht es dann diesen Killer-Instinkt.“
Dann bricht die Hölle los
Killer-Instinkt. Fussball ist Kampf, sicher eine sublimierte Form der kriegerischen Aggressivität, die noch irgendwo in unseren Genen steckt, und die in grauer Vorzeit das Überleben der Sippe gewährleistete. Natürlich ist die Sprache des Fussballs eine Sprache des Krieges. Da werden Verteidigungslinien durchbrochen, Schusspositionen eingenommen und Schlachten geschlagen. Als die Schweiz gestern Abend das Spiel gewann, da lag das wohl am Ende nicht am technischen Niveau der Ballbehandlung und auch nicht an der Strategie, sondern tatsächlich an der Kampfmoral. Es lag am psychologischen Power des Schweizer Teams.
In der letzten halben Stunde wechselte Coach Petkovic drei Spieler ein: Embolo, Drmic und Stocker, und was dann geschah, war eines dieser Fussball-Wunder. Drmic schiesst in der 79. Minute das erste Tor, Stocker in der 83. Minute das zweite und wiederum Drmic in der Verlängerung das Siegestor zum 3:2. Sekunden später kommt der Schlusspfiff, und im St.Jakob-Stadion bricht die Hölle los, die Zuschauer liegen sich in den Armen. In der Siedlung, in der ich wohne, tönt Jubelgeschrei aus einigen Stockwerken. Wir prosten uns zu: Wir haben gewonnen, wir sind Sieger! Das Glück ist vollkommen. „Niemand hat mehr an uns geglaubt“, sagte Drmic nach dem Spiel, „aber alle Spieler haben es getan, und deshalb haben wir es geschafft.“
Investitionsobjekte
Ich weiss nicht, warum ich mir immer wieder diesen blöden Fussball anschaue, einen Sport, von dem ich seit langem sage: Er ist zum brutalen Big Business verkommen, seine Profis sind nicht mehr als Investitionsobjekte, die von ihren Clubs gehandelt werden wie Aktien an der Börse. Eine besondere Form von Aktien, die auch dann noch immer weiter Rendite abwerfen, wenn man sie längst abgestossen hat. Denn bei internationalen Transfers geht in der Regel ein gewisser Prozentsatz der Ablösesumme an den Club, der den Spieler ausgebildet hat. Und auch die Transferverträge sind meist so gestaltet, dass der Verkäufer noch einmal Geld bekommt, wenn der Käufer den Spieler zu einer höheren Summe weiterverkauft. Teil von diesem Handel ist natürlich – wie an jeder Börse - ein kompliziertes System von Zusatzprämien und Versicherungen, mit dem wiederum Verluste minimiert werden. Schöne neue Fussballwelt.
Es ist alles nicht mehr wie früher. Schwalben sind heute Routine geworden. Sie heissen Schwalben, weil die Spieler den eleganten Sturzflug dieser Vögel nachahmen, um einen Penalty oder auch nur eine Spielunterbrechung zu erreichen. Dann fallen die Darsteller tödlich getroffen, rollen in allzu vielen Drehungen akrobatisch über den Rasen, um liegen zu bleiben wie ein sterbender Schwan und sich unter furchtbaren Schmerzen zu krümmen. Dann kommen sie gerannt: der Sportmediziner, der Mann mit dem Anästhesie-Spray, irgendeiner mit einem Handtuch und einer Wasserflasche, und das dauert lange, sehr lange, denn es gilt Zeit zu gewinnen. Wenn der Schwerverletzte dann kurz darauf wieder munter mitspielt, war alles nicht echt, sondern grosse Schaupielkunst.
Eleganz von Zirkusakrobaten
Das Festhalten am Arm, am Trikot oder an der Hose ist Normalität geworden. Es hat sich offenbar im Lauf der Jahre durchgesetzt, ohne dass die Schiedsrichter in der Lage oder willens waren, dieser Praxis Einhalt zu gebieten. Oder liegt es daran, dass Kameratechnik und Regie heutzutage besser in der Lage sind, diese Fouls unmittelbar zu dokumentieren? Die Wiederholung in Slow Motion zeigt Szenen von brutalem Reissen an der Kleidung, wie es noch in den siebziger oder achtziger Jahren höchstens auf dem Fussballacker hinter dem Dorf zu sehen war. Wird ein Eckball getreten, so drängen sich die Spieler vor dem Tor eng umschlungen, packen sich an der Hose, als sei man beim Schwägalp-Schwingen.
Aber es gibt nicht nur Unerfreuliches, auch im Positiven ist nichts mehr wie früher. Wer in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts den „Schalker Kreisel“ für grosse Fussballkunst hielt, der glaubt heute an Hexerei, wenn er sieht, mit welcher Härte und Schnelligkeit die Doppelpässe auf engem Raum gespielt werden. Die Ballannahme von Steilpässen in vollem Lauf beherrschen die Profis mit der Eleganz von Zirkusakrobaten. Der moderne Fussball ist auf einem balltechnischen Niveau angelangt, das selbst einen Diego Maradona oder einen Johan Cruyff in ihren besten Zeiten alt aussehen lässt.
In trauriges Schwarz gekleidet
Der argentinische Schriftsteller Bio Casares sagte eimal, es gebe wohl keine bessere Abhärtung gegen die Widrigkeiten des Lebens als Fan von einem Club zu sein, der immer wieder verliert. Diesen Aschermittwoch ertragen zu können nach dem Karneval des Spiels. Wenn der Fussball einen moralischen Wert hat, dann ist es dieser: verlieren lernen. Die Niederlage akzeptieren können und in der Niederlage oder nach einem verlorenen Zweikampf fair zu bleiben gegenüber dem Gegner. Das ist eine Tugend, die nur ausgereifte Spielerpersönlichkeiten mitbringen.
Wenn man sieht, wie schnell es heutzutage zu Handgreiflichkeiten zwischen Spielern kommt und wie Schiedsrichter angebrüllt oder beleidigt werden, dann ahnt man nichts Gutes für die Zukunft des Fussballs. Es geht eben um viel Geld, könnte man sagen. Aber vielleicht war das auch so, seit es Fussball gibt: Der Job des Schiedsrichters ist, dass er sich verhasst macht. Schiedsrichter sind meist in trauriges Schwarz gekleidet. Dem Schiedsrichter applaudiert selten jemand.
Die korrupten Fifa-Funktionäre - vergessen
Doch wenn wir dann sehen, wie Drmic in der 94. Minute den Ball in die Kiste knallt, dann ist alles vergessen und vergeben. Wir haben gewonnen! Vergessen die Transfer-Millionen, die manipulierten Wetten, die korrupten Fifa-Funktionäre, die Schwalben und die Fouls, die Schmerzmittel und die Spritzen. Dann hat, und sei es nur für einen Augenblick, der Fussball wieder zu seinen Ursprüngen zurückgefunden. Er war einmal zweckfreies Spiel mit dem Ball. Oder, wenn es einen Zweck gab, dann war es die Lust der Bewegung, so wie die Katze mit dem Wollknäuel spielt.
1973 interessierten sich Journalisten in Buenos Aires für eine auffallend gute Kindermannschaft. Ein Dreizehnjähriger sagte dem Reporter: „Wir spielen zum Vergnügen. Wir werden nicht für Geld spielen. Wenn es um Geld geht, bringen sich alle um, um Stars zu werden, und dann kommt Neid und Egoismus.“
Während des Interviews hielt er den kleinsten der Jungen umarmt, den alle toll fanden. Es war der zwölfjährige Diego Maradona. Diego stammte aus einem Armenviertel von Buenos Aires. Er schlief nachts mit seinem Fussball. Eduardo Galeano erwähnt diese Episode in seinem Buch „El fútbol a sol y sombra“.
Die Kindheit wiederfinden
Der spanische Schriftsteller Javier Marias sagte in einem seiner Essais, im Fussball könne er Woche für Woche seine Kindheit wiederfinden: „la recuperación semanal de la infancia“. Es scheint tatsächlich so, als ob das Spiel uns aus jedem Kontext heben und zurückversetzen könnte in eine Zeit, da es noch wirkliche Helden gab, die Wunder vollbrachten. Es gibt Kasperli und Teufel, Drachen und Feiglinge. Und Glück und Leid dauern immerhin 90 Minuten. Plus Nachspielzeit.