Das Theatervergnügen ist ein noch grösseres als das Lesevergnügen. Auch wegen eines Schwurs, der umständehalber zu brechen war, weshalb es sich um einen unsündigen Notbruch handelt. Er bereichert die Aufführung witzig um eine kreative Facette. Sie passt zur Lust eines Regisseurs, eines Musikers und eines Schauspielers, die im wahrsten Sinne des Wortes wunderbare Erzählung „Die Heilige“ von Gabriel García Márquez je unterschiedlich zu deuten und die Summe der Deutungen, eine die andere ergänzend und weitertreibend, auf die Bühne zu bringen.
Das Kunststück
Die Fülle dessen, was ohnehin in die Geschichte hineingelesen und aus ihr herausgelesen werden kann, wird musikalisch, filmisch, inszenatorisch klug und fantasievoll multipliziert. Literatur gewinnt die Gestalt einer strahlenden Installation, die Literatur nicht zum Werkstoff degradiert, sondern ihr alle Ehre erweist. Das ist das Kunststück. Es erhielt langen und warmen Premierenapplaus.
Zwischen Zuversicht und Vergeblichkeit
In seiner herrlich merkwürdigen Erzählung lässt Márquez einen Vater durch Rom irren in der Erwartung, seine mit sieben Jahren verstorbene Tochter, die er in einem Sarg mit sich trägt, möge vom Papst heilig gesprochen werden. Dafür gibt es Beweise: Das Mädchen verwest nicht, bewahrt seine liebreizende Schönheit und ist federleicht.
Vater Marguerito Duarte, Gemeindeschreiber aus einer kolumbianischen Provinz, stösst im Vatikan auf Gleichgültigkeit. Und wenn ein schwacher Hoffnungsfunke aufkommt, dann stirbt der Papst. Es sind im Verlauf von 22 Jahren deren fünf.
Die Erzählung, die weder erklärt noch anklagt, sondern das Vierteljahrhundert eines zärtlichen und stolzen Vaters zwischen Zuversicht und Vergeblichkeit mit völliger Selbstverständlichkeit beschreibt, birgt einen unerschöpflichen Schatz an Deutungsmöglichkeiten. Die Lektüre packt.
Dem Text der Vorrang
Sie packt, beschäftigt und genügt sich selber so sehr, dass sich ihre Bearbeitung fürs Theater oder Kino alles andere als aufdrängt. Es sei denn, es überlegen sich Könner ihres Fachs, wie „Die Heilige“ mit ihrer tiefen Rätselhaftigkeit an Faszination gewinnen könnte.
Dem schwierigen Unterfangen als nachvollziehbarer Versuchung erlagen der Regisseur Peter Schweiger, der Musiker und Komponist Daniel Fueter und Daniel Rohr als erzählender Schauspieler. Ihr Erfolg gründet im Entschluss, den literarischen Text weder zu dramatisieren noch aktualisierend zu verbiegen, sondern dem in die Siebzigerjahre zurückreichenden Original die Erkennbarkeit klar zu belassen.
Mit diesem Ziel vor Augen sind die Inszenierung sowie das Bühnenbild von Elke Thomann und die Kostüme von Claudia Binder minimalistisch. Alles soll zum Text hinführen, nichts von ihm ablenken. Der Verzicht auf Regietheater überzeugt.
Piazolla und ein bisschen Vivaldi
Kraftvoll und ebenfalls im Dienste der literarischen Vorlage die Musik. Sie wurde arrangiert aus dem Zyklus "Die vier Jahreszeiten in Buenos Aires" von Astor Piazzolla und mit einer fast unvermeidlichen, aber äusserst sensiblen Reverenz an Antonio Vivaldi.
Eriko Kagawa am Flügel und das Galatea-Streichquartett sind die hervorragenden Interpreten der Musik und die musikalischen Interpretatoren der Erzählung.
Vergnügen und Nachdenklichkeit
Ausgerechnet aus Anlass einer versuchten Heiligsprechung wurde Fredi Murer seinem heiligen Schwur untreu, nach seinem Spielfilm „Liebe und Zufall“ niemals mehr für die Leinwand zu arbeiten. Er liess sich erstens überreden, zweitens schnell und drittens, Gott sei Dank, den Márquez-Text aus hoher zeichnerischer Begabung zu deuten und die Bilder als Videosequenz zu projizieren. Entstanden ist im Zusammenwirken mit Matthias Gnehm und Julia Morf die künstlerisch aussergewöhnliche Filmgattung der stummen Stills.
Literatur und Theater und Film und Musik wachsen zu einem Ganzen, das die Summe der Einzelteile übersteigt und dem Publikum Vergnügen und Nachdenklichkeit schenkt.
Theater Rigiblick, Zürich: „Die Geschichte einer Heiligen“.
Weitere Aufführungen siehe www.theater-rigiblick.ch