188 Staaten haben diesen Vertrag ratifiziert. 725 historische Stätten erhielten das begehrte Label eines Weltkulturerbes. Diese Auszeichnung bringt Geld ins Land, oft viel Geld. Doch sie hat ihre Kehrseite: Die Trampelpfade des Massentourismus beschädigen die Bauwerke, die für spätere Generationen erhalten werden sollen. Mitunter führt Rivalität um den Besitz der Zeugen vergangener Zivilisationen sogar zu Kriegen.
So liefern sich die thailändischen und die kambodschanischen Streitkräfte regelmässig Gefechte um den Besitz des Tempels von Preah Vihear, der an der Grenze zwischen den beiden Staaten liegt. 1962 sprach der Internationale Gerichtshof in Den Haag die vor tausend Jahren zu Ehren der Hindu-Gottheit Shiva errichtete Kultstätte Kambodscha zu. Thailand erkennt aber diesen Richtspruch nicht an.
"Was heisst Kultur? Geld verdienen"
Während ihrer Schreckensherrschaft 1975 bis 1979 verminten die „Roten Khmer“ das Gelände. Das hatte immerhin den Vorteil, dass der Tempelruinen lange unversehrt blieben, bis sich vergangenes Jahr thailändische und kambodschanische Militärs tagelang mit Artillerie und Maschinengewehren beschossen, wobei ein Flügel des Tempels einstürzte. Mindestens sechs Menschen kamen ums Leben, 15.000 Menschen mussten evakuiert werden. Unesco-Generaldirektorin Irina Bokova entsandte eine Vermittlungsmission.
Ganz oben auf der Unesco-Liste des Kulturwelterbes steht Italien. Italien dürfte auch das einzige Land sein, das in seiner Verfassung ein Grundrecht auf Kultur festlegt. „Aber was heisst in Italien Kultur?“ fragt der Florentiner Kunsthistoriker Tomaso Montanari und gibt gleich die Antwort darauf: „Es heisst Geld verdienen!“
"Venedig retten"
Damit ist man in Venedig angelangt. Nach dem Schiffbruch der „Costa Concordia“ vor der Insel Giglio hat die Unesco die italienische Regierung aufgefordert, den Verkehr der immer grösseren Kreuzfahrtschiffe in der Lagune von Venedig einzuschränken. Jedes Jahr fahren 300 dieser schwimmenden Luxushotels am Markusplatz vorbei und bescheren der Stadt fast zwei Millionen Besucher.
Die „Serenissima“ hatte die Auszeichnung der Unesco nicht nötig, um Touristenströme anzulocken. Aber mit dem Status eines Weltkulturerbes sind finanzielle Zuschüsse verbunden. Seit 1968 beteiligt sich die Unesco unter dem Motto „Venedig retten“ an der Sanierung der Lagunenstadt. Die italienische Regierung hatte die Organisation ausdrücklich um Hilfe ersucht. Die von den Kreuzfahrtschiffen verursachten Vibrationen erschüttern aber weiterhin die brüchigen Fundamente. Und ein Unfall wie jener der „Costa Concordia“ lässt sich nicht ausschliessen.
Venedig, Beute eines Ungetüms
Jedes Jahr besuchen 20 Millionen Menschen Venedig – das sind täglich 60.000, was der Einwohnerzahl der Stadt „intra muros“ gleichkommt. „Der Tourismus ist die Grundlage der Wirtschaft Venedigs“, erklärt der Leiter des Kulturressorts der Unesco, Francesco Bandarin. Der gebürtige Venezianer kennt die Schattenseiten dieser Entwicklung: „Ich habe erlebt, wie Venedig die Beute eines Ungetüms wurde. Der Tourismus killt alle anderen Wirtschaftszweige, denn keine andere Industrie generiert so schnell hohe Profite.“
Vom Tourismus platt getreten werden auch die erst 1911 entdeckten Ruinen der ehemaligen Inkastadt Machu Picchu in Peru. Der isolierte Gebirgsort in 2430 Meter Seehöhe zieht heute bereits eine Million Besucher im Jahr an. Am Fusse des Berges hat sich das frühere Dorf Aguas Calientes zu einer Kleinstadt mit Luxushotels, Restaurants und unzähligen Souvenirläden gemausert. Machu Picchu ist mit Aguas Calientes derzeit nur durch einen Zug verbunden. Dadurch wird die Zahl der Besucher auf 2500 pro Tag begrenzt. Die peruanische Regierung steht aber unter dem Druck von Reiseunternehmen und Lokalpolitikern, eine Strasse zu bauen. Sogar das Projekt einer Seilbahn ist im Gespräch.
Disneyland in den Anden
Die Unesco hat schon vor vier Jahren ihrer Sorge Ausdruck verliehen, dass die unkontrollierte urbane Entwicklung zur Zerstörung der Wälder und zu Erdrutschen führt. Ein erster Alarm kam 2010, als schwere Regenfälle die Eisenbahnschienen wegschwemmten. 4000 Touristen waren fünf Tage lang eingeschlossen und mussten mit Helikoptern ausgeflogen werden. Jetzt droht die Unesco, Machu Picchu als „gefährdetes Monument“ zu klassieren, falls das Inka-Heiligtum ans Strassennetz angeschlossen wird.
Der peruanische Anthropologe David Ugarte schliesst sich den Warnungen an: „Manche Leute sehen in Machu Picchu nur das Geschäft. Der Inka Pachacutec liess das Bauwerk aber als Stätte der religiösen Einkehr errichten. Wir möchten nicht, dass daraus ein Disneyland der Anden wird.“
Tourismusprojekte bedrohen historische Stätten
Der Massentourismus bedroht auch die Tempelanlagen von Angkor Wat in Kambodscha. Der Schreiber dieser Zeilen war einer der ersten Journalisten, die 1980 im Tross der vietnamesischen Armee die Entmachtung der „Roten Khmer“ miterlebten. Damals kehrten die ersten Menschen in die von den Roten Khmer entleerte Hauptstadt Phnom Penh zurück. In der Provinz Siem Reap, in der Angkor Wat liegt, kontrollierten die Vietnamesen tagsüber die Landstrassen. In der Nacht kehrten die Krieger Pol Pots zurück. Die Roten Khmer wurden nicht militärisch besiegt, sondern ihre Führer wurden gekauft: Sie mauserten sich zu Unternehmern und Edelsteinhändlern.
Seither sind in Siem Reap an die 150 Luxushotels wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden geschossen. Sogar die Regierung Nordkoreas hat ein Restaurant namens „Pjongjang“ eröffnet, in dem sich Privilegierte des letzten stalinistischen Regimes mit Verwandten aus Südkorea treffen.
Bei koreanischen Gerichten um 100 Dollar pro Person spricht man nicht über Krieg. Mädchen aus Nordkorea in Volkstracht singen Volkslieder und Opernarien. Vergangenes Jahr besichtigten mehr als 260.000 Südkoreaner die Überreste von Angkor Wat. Insgesamt zählte die Tempelanlage in den ersten acht Monaten des vergangenen Jahres über eine Million Besucher.
Angkor Wat hat den Ansturm bisher ziemlich unbeschädigt überstanden. Die Unesco überwacht den Zustand von 180 Weltkulturerben, nicht aber ihr touristisches Umfeld. Gigantische Tourismusprojekte bedrohen zahlreiche historische Stätten wie das vor genau 200 Jahren vom Schweizer Forscher Jean-Louis Burckhardt wiederentdeckte Petra im heutigen Jordanien. Neben den bereits existierenden 33 Hotels – darunter sechs Fünf-Sterne-Herbergen - wollen saudiarabische Investoren ein Feriendorf hinstellen. „Manchmal zeitigt unsere Arbeit Resultate, manchmal nicht, das ist etwas frustrierend“, erklärte Unesco-Direktor Bandarin in einem Interview, „aber wir sind keine internationale Polizeitruppe.“