In Washington DC aber holt die Realität Barack Obama rasch wieder ein. Dieser Tage trifft er die Führer des Kongresses – unter ihnen John Boehner, den Chef der neuen republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus.
Amerikanische Präsidentschaftskandidaten geben sich im Wahlkampf gern als Aussenseiter, die mit den schmutzigen Machenschaften in Washington nichts zu tun haben wollen. Und jeder verspricht, falls er gewählt würde, die politische Kultur der Hauptstadt zu verbessern und überparteilich zu regieren, nicht als Vertreter einer Partei, sondern als Präsident aller Amerikaner. Auch Barack Obama hat das gelobt und - als junger Senator mit den Spielregeln des politischen Geschäfts in DC erst flüchtig vertraut - unter Umständen auch geglaubt, er könne das.
Spätestens die Zwischenwahlen haben Obama eines Anderen belehrt: Seit Beginn seiner Amtszeit im Januar 2009 haben sich die Republikaner im Kongress dem Präsidenten mit aller Kraft widersetzt, aus Prinzip und nicht etwa der Sache willen. Und der Grand Old Party ist es auch dank ihrer Sprachrohre beim TV-Sender Fox News gelungen, die Bevölkerung mit ihrem Widerstandsgeist zu infizieren, mit Anti-Körpern, die alles abstossen, was aus dem Weissen Haus kommt - selbst dann, wenn dessen Politik dem Volke nützt oder helfen würde wie etwa die Reform des Gesundheitswesen, das Hilfsprogramm für die Banken oder das Konjunkturpaket - überwiegend Massnahmen, die am Ende Schlimmeres verhindert haben.
Steuersenkungen trotz Staatsschulden
Doch das hätte das Weisse Haus erst beweisen müssen: „To prove a negative“ war schwer bis unmöglich. Das Resultat der Zwischenwahlen, analysiert der Kolumnist Hendrick Hertzberg im „New Yorker“, zeige eine Art politischer kognitiver Dissonanz:
„Verängstigt wegen der Arbeitslosigkeit, hat ‚das ‚amerikanische Volk’ jene Partei belohnt, die sich nicht nur einer Konjunkturspritze widersetzt, sondern auch die Weiterführung der Arbeitslosenentschädigung blockiert hat. Alarmiert wegen wachsenden Staatschulden, haben die Amerikaner jene Partei gewählt, die nicht nur Haushaltsüberschüsse in Defizite verwandelt hat, sondern auch vorschlägt, die Staatsschulden um Hunderte von Milliarden ansteigen zu lassen mit einer Steuersenkung, von der die reichsten zwei Prozent des Landes profitieren. Frustriert durch anscheinende Passivität der Regierung, haben die Wähler jener Partei zum Sieg verholfen, die nicht nur jeden Versuch bekämpft hat, die Krise zu lindern, sondern auch alle entsprechenden Massnahmen verwässerte, die sie nicht stoppen konnte.“
Wenig Konzessionsbereitschaft
Nun aber will sich Barack Obama erneut mit den Republikanern zusammenraufen, um nach Mitteln und Wegen zu suchen, um „die verzweifelten Staaten von Amerika" (so der Titel des „Spiegel“), die laut Umfragen vom richtigen Weg abgekommen sind, wieder auf Kurs zu bringen. Beim Treffen mit den Führern des Kongresses geht es zum einen darum, wie der Senat und das Repräsentantenhaus, zwar beide noch in demokratischer Hand, bis zum Sessionsende funktionieren sollen. Zum andern dreht sich die Diskussion darum, wie das politische Programm des neuen Kongresses, in dem ab Januar die Republikaner das Abgeordnetenhaus kontrollieren, künftig aussehen könnte.
„Es wird ein Treffen sein, in dem ich substanziell darüber sprechen will, wie die Anliegen des amerikanischen Volkes gefördert werden können“, sagte Barack Obama vor seiner Abreise nach Asien. Eines der Hauptthemen beim Gespräch zwischen Weissem Haus und Kongress: Sollen die Steuererleichterungen, die George W. Bush erlassen hat und die Ende Jahr auslaufen, weiter geführt oder modifiziert werden? Barack Obama schwebt eine Art Reichtumssteuer vor, wonach Individualeinkommen über 200 000 Dollar pro Jahr erneut stärkerbelastet würden.
Indes hat Mitch McConnell, Minderheitsführer der Republikaner im Senat, bisher wenig Konzessionsbereitschaft erkennen lassen. „Wenn es unsere Hauptziele sind, die Reform des Gesundheitswesen rückgängig zu machen, die Hilfsprogramme für Banken zu beenden, die Staatsausgaben zu drosseln sowie die Grösse und Reichweite der Regierung zu verringern, so können wir das nur tun, wenn wir jemanden ins Weisse Haus befördern, der sein Veto gegen all diese Vorhaben einlegt.“ Zwar frisst auch der Mann aus Kentucky ein wenig Kreide: „Das amerikanische Volk will, dass wir den Wunschzettel der Linken zur Seite legen und besser zusammenarbeiten.“ Doch McConnell hat vor den Zwischenwahlen auch gesagt, wichtigstes Ziel der Republikaner müsse es sein, Präsident Obama lediglich während einer Amtszeit regieren zu lassen.
Telegene Tränen
Doch Barack Obamas Hauptwidersacher in Washington DC wird John Boehner sein, der Mehrheitsführer der Republikaner im Repräsentantenhaus. Der 60-Jährige brach während seiner Siegesrede am Wahlabend in Tränen aus, als er über „wirtschaftliche Ungebundenheit, individuelle Freiheit und persönliche Verantwortung“, über Familie und harte Arbeit zu sprechen begann. „Ich halte diese Werte hoch, weil ich sie gelebt habe“, schluchzte Boehner: „Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, den amerikanischen Traum zu verfolgen.“ Auch der frühere Geschäftsmann hat versprochen, die politische Kultur in der USHauptstadt zu fördern.
John Boehners telegene Tränen veranlassten Kommentatoren dazu, über die Rolle des Weinens in der amerikanischen Politik zu sinnieren: von Edmund Muskie, der während des Präsidentschaftswahlkampfs 1972 bei einer Pressekonferenz in Tränen ausbrach (was das Ende seiner Kandidatur bedeutete), über Präsident Ronald Reagan, den der Anblick des Sternenbanners zu rühren pflegte, bis hin zu Vater und Sohn Bush, die Feiern zu Ehren der Opfer von Kriegen, die sie angezettelt hatten, sichtlich bewegten. Boehner, der trinkfeste Sohn eines Barbesitzers aus Cincinatti (Ohio) und eines von elf Geschwistern, gilt heute als wohl prominenteste Heulsuse Washingtons.
Noch steht offen, was für eine Rolle der anscheinend so sensible Republikaner aus Ohio im neuen Kongress spielen wird. Während die Demokraten John Boehner laut „Time“ als „Golf-süchtigen, von Lobbyisten umzingelten, Ketten rauchenden Insider mit seltsam orangem Teint und der radikalen Agenda eines Rechtsaussen“ karikieren, schildern ihn Freunde als ausgeglichenen, pragmatischen Konservativen mit empfindsamen Zügen, als einen Politiker, der nicht machtsüchtig, dafür aber willens ist, die Rechte von Minderheiten zu respektieren und das Abgeordnetenhaus demokratischer funktionieren zu lassen.
Amerika steht zum Verkauf
Was auf jeden Fall für Boehner spricht: Er hat während seiner Karriere noch nie eine besondere Berücksichtigung seiner Wähler in Form von Regierungsaufträgen oder Zuschüssen gefordert. Das ist eine Art Sport, den seine Kollegen im Kongress, Demokraten wie Republikaner, sonst mit Verve betreiben, wenn sie ihre Zustimmung zu einzelnen Gesetzen von der Gewährung so genannter „earmarks“ abhängig machen. Ein ausgesprochen kritisches Bild von John Boehner zeichnet dagegen der Kolumnist Johann Hari im Londoner „Independent“ unter dem Titel: „Amerika steht neuerdings offiziell zum Verkauf“. Hari schildert, wie der Selfmademan aus ärmlichen Verhältnissen einst drei Jobs gleichzeitig machen musste, um studieren zu können:
„Doch als er gewählt wurde, zeigte es sich, dass wesentlich mehr Geld zu machen war, wenn er die Interessen der Reichen statt jene der Armen vertrat. Er nahm das Geld der Versicherungen und stimmte gegen eine Krankenversicherung für Kinder und jene Leute, die an 9/11 zum World Trade Center eilten, um Menschen aus den Trümmern zu befreien, wobei sie giftige Gase einatmeten. Er nahm das Geld der Rüstungsbetriebe und unterstützte jeden Krieg, der zu haben war. Er setzt sich unermüdlich für den Overdog ein, während er dessen Geld einsackt und in dessen Privatjet zu den luxuriösesten Plätze der Welt fliegt.“
Verantwortlichkeit beginnt an der Spitze
John Boehner ist laut Hari ein typischer Vertreter der republikanischen Partei: „Sie benutzen die kulturellen Wegmarken des einfachen Amerikaners, damit dieser sich mit ihm emotional identifiziert. Gleichzeitig aber plündern sie diese Leute aus und verteilen ihr Geld an die Reichen.“ So dezidiert wie der 31-jährige Brite würde das ein amerikanischer Kommentator kaum formulieren. Eine gehörige Tracht verbaler Prügel seitens der geifernden Demagogen auf Fox News wäre ihm sonst sicher. Und was will John Boehner selbst? „Das amerikanische Volk verdient eine Mehrheit im Kongress, die auf die Leute hört, sich um ihre Anliegen kümmert und ihren Wunsch nach weniger Staat, aber mehr Verantwung respektiert. Verantwortlichkeit beginnt an der Spitze, im Büro des Präsidenten des Unterhauses.“
Die Bemerkung erinnert an Präsident Harry S. Truman (1884-19972). Der hatte auf seinem Pult im Weissen Haus ein hölzernes Schild stehen, auf dem „The Buck Stops Here“ stand: Ich trage letztlich die Verantwortung. Doch was ein rechter Republikaner ist, der mag Truman, den Demokraten, eigentlich nicht. Umso weniger, als der seinerzeit seine politischen Gegner nicht schonte. „Ihnen gefällt die Regierung der Vereinigten Staaten so gut, dass sie sie am liebsten kaufen würden“, sagte Amerikas 33. Präsident über die Republikaner.