Verweigerte Liebe kränkt und verletzt. Das erzählt beinahe jede Liebesgeschichte, in welcher die Liebe einseitig bleibt und das erträumte Glück sich als Illusion erweist. Zurück bleibt zumindest ein gebrochenes Herz. Das ist so tragisch wie alltäglich.
Seltsamerweise kommt in manchen Beziehungen, die unglücklich enden, ein weiteres Verletzungspotential hinzu. Es ist der Wille des einen Partners, den anderen nicht nur zu verlassen, sondern ihn auch noch mit Hohn und Spott zu überschütten. Die Demütigung des anderen macht erst das volle Trennungsprogramm aus! Er – oder sie – soll nicht nur verlassen, sondern auch noch beleidigt werden, ja, der Lächerlichkeit, der Häme und der Beschämung ausgesetzt sein.
Die Italiener kennen dafür das Verbum «schernire» – jemanden verhöhnen, verächtlich machen, dem Spott ausliefern. So ist es nicht überraschend, dass auch in ihrer literarischen und musikalischen Tradition «il cor schernito» – das verhöhnte Herz – seinen Platz gefunden hat. Und somit natürlich auch in der Oper.
Die bezaubernde Alcina
Eine der in Bezug auf verletzte Liebe interessantesten Figuren der Opernwelt ist Alcina, die der Stoffwelt des Heldenepos «Orlando furioso – Der rasende Roland» des italienischen Dichters Ludovico Ariosto entnommen ist. Entstanden ist diese Dichtung, die im Verlauf der Jahrhunderte auf ganz Europa ausstrahlen sollte, zwischen 1505 und 1532. In der Barockzeit wurde dieses literarische Glanzstück der Renaissance zur reichsten Quelle, die auch die neu entstehende Kunstform Oper thematisch bereichern sollte.
Der deutsche Komponist Georg Friedrich Händel (1685–1759), der nach seinem Italienaufenthalt bald einmal nach London zog, um dort auf dem Gebiet der italienischen «Opera seria» als Komponist wie als Impresario zu glänzen, orientierte sich für die Stoffe seiner Opern gleich mehrfach an Ariostos Epos: Seine drei Opern «Orlando» (1733), «Ariodante» (1735) und «Alcina»(1735) beziehen ihre Figuren vor allem aus zu Libretti verarbeiteten Geschichten dieser einen Quelle.
In unserer Zeit der Wiederentdeckungen barocker Opern ist Händels «Alcina» auf der Beliebtheitsskala in die Spitzenränge hochgerückt. Sie ist die Frau, die Männer von ihrem Tugendpotential und ihren Lebensaufgaben ablenkt und mit Liebesspielen auf ihre Insel lockt, wo sie sich mit ihnen verlustiert, um sie kurz danach ihrer menschlichen Gestalt zu berauben und in Tiere, Steine oder Pflanzen zu verwandeln. Die antike Kirke – «bezirzen» – lässt grüssen!
So ergeht es auch dem Ritter Ruggiero, der sich von Alcina umgarnen lässt und so nicht nur seine Dienstpflichten vergisst, sondern auch, dass er auf dem Festland eine Braut hat, die ihm entgegenharrt. Die Liebesinsel tut ihre Wirkung und lässt den vom erotischen Spiel vernebelten untreuen Bräutigam ganz in den Bann Alcinas fallen.
Hexe oder Liebende?
Doch etwas verläuft bei der Begegnung zwischen Ruggiero und Alcina anders als sonst. Sie, die eine hässliche alte Frau ist und nur dank ihrer Zauberkünste den verblendeten Männern als strahlende Liebhaberin zu erscheinen vermag, erfährt diesmal selbst die Kraft der Liebe. Sie will nun ihren Ruggiero nicht mehr in eine Bestie verwandeln, welche die Zauberinsel vor unerwünschten Besuchern bewacht, sondern glücklich mit ihm die Insel der Seligkeit bewohnen.
Wäre da nicht die Realität, die in Gestalt von Ruggieros Braut Bradamante einbricht und die Liebesidylle ihres pflichtvergessenen Bräutigams auffliegen lässt. Er erinnert sich wieder seiner Bestimmung und will nun mit Bradamante die Zauberinsel samt der Geliebten verlassen, was Alcina zutiefst kränkt und bei ihr alle Gefühle verratener Liebe mobilisiert. Alcina muss einsehen, dass ihre Zauber- und Hexenkünste versagen, wenn es um Liebesleid und Liebesnot geht. Sie versinkt zusammen mit ihrer Zauberinsel in den Tiefen des Ozeans.
Händel hat in einer Reihe von hoch virtuosen Arien der Alcina dargelegt, durch welche Gefühlsextreme Liebende hindurchmüssen, wenn Liebe sich in Liebesverrat und Verachtung verwandelt. Für Alcina ist es unbegreiflich, wie sie in den Augen des Geliebten auf einmal nicht mehr die schöne, die liebende, die über alle Zweifel erhabene treue Gefährtin seiner Sehnsucht und Zuneigung sein kann. «E pur son quella!» Und doch bin ich es, die für dich auf einmal nicht mehr lieb ist und nicht mehr schön! So klagt sie, hoffend, bangend und verwickelt sich gleichzeitig immer mehr auch in Verwünschungen und Drohungen gegen den eidbrüchigen Mann.
Jede der Alcina-Arien und der zum Teil ins grossformatige sich entwickelnden Arioso-Rezitative dieser dreiaktigen Oper ist ein psychologisches Lehrstück über aussichtslos verlorene Liebe, die in Hass, Wut und Verzweiflung, in Rebellion und in Hunger nach Rache umschlägt, wenn das Schicksal ihr Ende zu verfügen scheint. Wir halten uns hier an eine einzige Arie der Oper: die aus dem zweiten Akt über das verhöhnte Herz: «Ah! Mio cor! Schernito sei!» Sie ist das musikalische Glanzstück eines Klagelieds über eine Erfahrung, was man keinem Liebenden auf Erden wünscht.
Ein Aufschrei der Seele
Man teilt Alcina mit, Ruggiero habe seine Rüstung wieder angezogen. Jetzt fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Er will abhauen! Er will sie und ihr Liebesreich verlassen. Dieser infame, meineidige Schuft! Sie schwört, sich zu rächen, an ihm und seinem Gefolge.
Doch was geschieht mit ihr? Die erste Strophe ihrer Arie lautet: «Ach! Mein Herz! Du wirst verhöhnt! / Ihr Sterne, Götter! Gott der Liebe! / Verräter! Ich liebe dich so sehr; / wie kannst du mich mit meinen Tränen alleine lassen, / oh Götter! Warum?».
Man geht nicht fehl in der Annahme, hier sei höchste Verwirrung im Spiel. Der Kopf hat die Vorgänge noch nicht erfasst. Sie redet gleichzeitig zu den Göttern, zu sich, zum Geliebten. Alcina ist in einer sonderbaren Benommenheit durch das Unfassbare. Einer Magierin wie ihr soll das alles zustossen?
Im zweiten Arienteil heisst es: «Doch, was seufzt Alcina hier? / Ich bin Königin, und noch ist es Zeit; / Bleib oder stirb, leide ewig, / oder kehre zu mir zurück.» Will sie ihn bestrafen? Oder ihm verzeihen? Ist sie nicht jene, die hier das Sagen hat? Und deren Wille zu geschehen hat? Aber sie kennt sich selbst in ihrem Herzen nicht mehr aus. Mit dem, was ist, und mit dem, was sie sagt.
Wie in den meisten Arien der Barockzeit wiederholt Alcina jetzt den ersten Teil der Arie (da capo) mit musikalischen Abwandlungen und Überraschungen. Am Ende steht die nicht zu beantwortende Frage: «Oh Götter! Warum?». Diese Arie ist ein Aufschrei der weiblichen Seele gegen das, was Götter gegenüber Menschen für zumutbar halten.
Zwei Interpretationen
Die Musik dieser Arie gehört zum Aufwühlendsten, was Komponisten der Barockzeit sich ausgedacht haben. In der Orchestrierung ist die Arie geradezu auffällig bescheiden. Aber Rhythmus und Melodie dieses als unbegreiflicher Vorgang einherschreitenden Schicksalsschlages und mit dem empörend rebellierenden Mittelteil sind der Einfall einer begnadeten musikalischen Einfühlung in die Seele einer verletzten Frau. Darum ist es auch begreiflich, dass grosse Sängerinnen – irgendwann im Verlauf ihrer Karriere – diese Musik heute singen wollen. Hohe Soprane, Mezzos, sogar Altistinnen. Dass man aus Liebe die eigene Verführungsmacht verlieren kann, ist doch geradezu der Urschrecken jeder Sängerin, die mit einer magischen Stimme ausgestattet ist, die uns alle bezaubert?
Die erste – vollständige – Version wird hier von der in Höhe und Tiefe strahlenden amerikanischen Sopranistin Renée Fleming gesungen, in der berühmt gewordenen Aufnahme der Gesamtoper «Alcina» unter William Christie und Les Arts Florissants aus dem Jahr 1999.
https://www.youtube.com/watch?v=tz9uC4IIpVQ
Als Alternative dazu hören wir die Fassung der französischen Altistin Nathalie Stutzmann, welche sie – allerdings nur den ersten Arienteil davon – 2017 mit ihrem Ensemble Orfeo 55 unter eigener Leitung eingespielt hat. Hier klingt das «Perché? Perché» so nach, als würde in aller Ewigkeit kein Mensch je begreifen, weshalb die Götter Menschen derart mit Liebespein quälen und bestrafen können.