Das ägyptische Höchste Verwaltungsgericht, das am 23. Oktober darüber hätte entscheiden sollen, ob die gegenwärtige Verfassungsversammlung in Kairo aufgelöst werden muss oder nicht, hat nicht entschieden, sondern den gesamten Rechtsstreit um die Legalität oder Illegalität der Verfassungsversammlung dem Verfassungsgericht überwiesen. Dieses hat 45 Tage Zeit, um die Frage zu studieren und soll dann seinen Entscheid fällen. Es sei denn, es vertage seinerseits den Schiedsspruch um eine weitere Frist.
Die zweite Versammlung an der Arbeit
Die Verfassungsversammlung aus hundert Mitgliedern ist bereits die zweite, die ernannt wurde. Die erste wurde am 12. April dieses Jahres aufgelöst, weil damals das Verwaltungsgericht entschied, sie sei nicht repräsentativ für alle Gruppen von Ägyptern. Die zweite Versammlung wurde nach einer damals unter Beteiligung aller Parteien ausgehandelten Formel bestellt, wobei auch die Abgeordneten des damals noch bestehenden Parlamentes mitwirkten.
Das Parlament wurde kurz danach am 17. Juni aufgelöst, weil es "nicht verfassungsgemäss" gewählt worden sei. Die mehreren Dutzend Klagen gegen die gegenwärtige Verfassungsversammlung Nr. 2 berufen sich unter anderem auf die Parlamentsauflösung. In der Sicht der Kläger konnte ein nicht legales Parlament auch keine legale Verfassungsversammlung ernennen resp. bei ihrer Ernennung mitwirken.
Versammlung Nr. 3 in den Kulissen?
Es gibt bereits eine als legal geltende Formel, nach der Verfassungsversammlung Nr. 3 gewählt resp. ernannt werden sollte, falls es zur Auflösung der Verfassungsversammlung Nr. 2 kommt. Die Formel lautet: In diesem Fall habe der Präsident Morsi die neue Versammlung zu ernennen. Doch diese Formel ist nicht unangreifbar. Sie geht zurück auf Vollmachten, die Scaf, der damals regierende Militärrat, sich am 17. Juni selbst erteilt hat.
Scaf in dieser Form regiert nicht mehr. Morsi hat die Vollmachten der Militärführung in weiten Bereichen übernommen, als er am 12. August die damaligen Oberhäupter des Militärrates absetzte. Vermutlich können daher zwei Fragen aufgeworfen werden: Hat Morsi die Machtbefugnisse der Militärführung zu Recht übernommen? Und: War diese überhaupt berechtigt, sich selbst derartige Befugnisse zu erteilen?
Anderthalb Monate zur Vollendung des Entwurfes
Doch noch ist die Versammlung Nr. 2 nicht aufgelöst. Sie hat durch die 45 Tage, die das Verfassungsgericht sich gesetzt hat, um die Frage der Auflösung zu studieren, im Gegenteil 45 Tage mehr unbestrittene Lebenszeit erhalten. Die Verfassungsversammlung versucht, einen Verfassungsentwurf abzuschliessen, bevor ihr die Auflösung droht. Falls ihr dieses so rasch gelingen sollte, dass in dieser Frist auch ein Plebiszit durchgeführt werden könnte, und falls dieses angenommen würde, wäre die Verfassung gültig, und das Verfassungsgericht müsste sie als die Grundlage all seiner künftigen Entscheidungen anerkennen.
Gegendruck durch zwei innere Oppositionen
Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass die gegenwärtige Verfassungsversammlung dieses Rennen gewinnen kann. Der Verfassungsentwurf soll nach den darüber vorliegenden Informationen schon ziemlich weit gediehen sein. Doch die Fristsetzung, die sich nun durch die Betrauung des Verfassungsgerichtes ergeben hat, bewirkte sofort, dass sich die Gegensätze innerhalb der Versammlung verschärften.
Kompromisse, die bereits gefunden worden waren, wurden wieder in Frage gestellt, und zwei Randgruppen der Versammlung, jene am extrem islamischen Flügel, die "salafistischen" Gruppierungen, sowie jene am extremen säkularen Flügel aus liberalen, sozialistischen und koptischen Gruppen und Personen haben beide gedroht, sie könnten die Versammlung verlassen, wenn ihre Wünsche nicht besser berücksichtigt würden.
Die Ränder gegen die Mitte
In der 100-köpfigen Versammlung soll es etwa 20 "Salafisten" geben. Rund 15 Mitglieder sympathisieren mit den islamkritischen Kräften. In der Mitte steht die grosse Mehrheit der Mitglieder, die den Muslimbrüdern nahestehen oder zu ihnen gehören. Dies sind Durchschnittswerte, die genauen Proportionen verschieben sich von Abstimmung zu Abstimmung.
Streit über die Scharia
In den ersten Paragraphen des Entwurfes war nach heftigen Diskussionen als Kompromiss festgelegt worden, die Gesetzgebung Ägyptens habe auf den "Prinzipien der Scharia" zu beruhen. Doch nun melden die Salafisten an, dieser Kompromiss befriedige sie nicht. Die Bestimmung habe zu lauten: Die Gesetzgebung "beruht auf der Scharia". Der Wortlaut macht einen sehr bedeutenden Unterschied, weil die "Scharia" kein Gesetzbuch ist, sondern eine Rechtswelt mit vielen unterschiedlichen rechtlichen Regeln und Vorstellungen.
Was die "Prinzipien" der Scharia sind, ist umstritten und verschiedener Auslegungen fähig. Was aber die Gesetzesbestimmungen der Scharia wären, ist von einer unübersehbaren Vielfältigkeit, weil der Begriff Scharia eine riesige Menge von Meinungen, durchaus auch gegensätzlicher Art, unter den gegenwärtigen Fachleuten und den Gottesgelehrten aus einer über tausendjährigen Vergangenheit bündelt.
Wer interpretiert die Scharia?
Der Verfassungskompromiss hatte vorgesehen, dass die Gelehrten der al-Azhar Moschee im Streitfall darüber entscheiden sollten, was die "Prinzipien der Scharia" wären. Die Gottesgelehrten der al-Azhar Moschee sind mehrheitlich keine Salafisten und stehen deren Islamverständnis in mancher Hinsicht entgegen. Der salafistische Flügel der Verfassungsversammlung besteht nun darauf, dass diese Grunddiskussion wieder eröffnet werde, obwohl sie als abgeschlossen gegolten hatte. Er droht auch gleich, wenn dies nicht geschehe, werde er die Versammlung verlassen.
Einwände von Seiten der Liberalen
Auf der Gegenseite sind die liberalen, sozialistischen, koptischen und nationalistischen Mitglieder der Versammlung darüber aufgebracht, dass die den Brüdern zuneigende Mehrheit immer wieder Bestimmungen und Formulierungen durchsetzt, die ihnen als "reaktionär", "illiberal" und "rückständig" gelten. Sie betrachten die Freiheits- und Menschenrechte als nicht genügend gesichert, besonders die Rechte der Frauen, und sie werfen der Mehrheit vor, sie versuche eine Verfassung festzuschreiben, die dazu diene, die Brüder permanent an der Macht zu halten.
Dass die Menschenrechte in dem Entwurf nicht so gut abgesichert seien, wie es einer "modernen Verfassung" gezieme, ist auch die Ansicht der verschiedenen Menschenrechtsgruppen, die es in Ägypten gibt.
Was ist repräsentativ für Ägypten?
In dem Streit spielt der Begriff "repräsentativ" eine grosse Rolle. Doch im heutigen Ägypten gibt es keinen objektiven Massstab dafür, was repräsentativ sei. Nur Wahlen können darüber einigermassen präzise Auskunft geben, wenn man sich nicht auf Meinungsumfragen verlassen will, deren Gültigkeit stets bestritten werden kann. Doch nicht gefälschte Wahlen hat es bisher in Ägypten nur zwei Mal gegeben: jene des Parlamentes, das wegen Ungültigkeit des Wahlgesetzes aufgelöst wurde, und jene des Präsidenten, in denen im zweiten Wahlgang zwei beinahe gleich grosse Hälften von Ägyptern einander gegenüberstanden.
Die beiden Wahlen brachten unterschiedliche Repräsentationen hervor, jene des Parlamentes ergab ein grosses Gewicht der radikal islamischen und der mehr gemässigten und pragmatischen islamischen Kräfte, während die andere Hälfte des ägyptischen Spektrums eher zu kurz kam, bedingt durch den Umstand, dass die nicht islamischen Kräfte schlecht organisiert und in Dutzende von Kleingruppen aufgespalten waren. Die Präsidialwahlen bündelten schliesslich die Wähler des Landes in zwei grosse Hälften. Die Frage der islamischen oder säkularen Politik erwies sich als die grundlegende Trennungslinie.
Repräsentativität zu bestimmen ist unter diesen Umständen schwierig. Man kann dies auf Grund der formellen Machtverteilung tun, die sich im ersten, nun aufgelösten, Parlament manifestierte. Worauf sich natürlich die Muslimbrüder berufen. Man kann aber auch die offensichtliche Teilung in zwei praktisch gleichgrosse Hälften zugrunde legen und von ihr ausgehend versuchen, den verschiedenen Untergruppen, die es innerhalb dieser Hälften gibt, jeweils möglichst gerechte Quoten zuzuweisen. Dies wäre die Vorstellung der säkularen Gruppierungen.
Repräsentativ oder handlungsfähig?
Wobei freilich anzumerken bliebe, das eine Macht- oder Kompetenzverteilung auf Grund von angemessenen Proportionen, sogar in dem Fall, dass diese einigermassen gerecht ausfallen sollten, nur zu leicht dazu führen könnte, dass die Beschlussfassung überaus schwierig würde, sowohl in einer Verfassungsversammlung wie auch in einem Parlament. Dies weil sich sowohl eine grosse Zersplitterung aller Kräfte ergäbe wie auch ein Gleichgewicht in der Grundfrage, die sich jedenfalls gegenwärtig immer wieder als eine Wasserscheide erweist, in jener von islamischer oder säkularer Politik.
In den meisten heute funktionierenden Parlamenten gibt es Mehrheitsprämien, die gegen den Grundsatz der rein proportionellen Repräsentativität verstossen, weil durch sie die Gefahr von Beschlussfassungsunfähigkeit vermindert wird.
Die Zeit drängt
All dies sind Grundfragen, über die in der Verfassungsversammlung rasch Kompromisse zustande kommen müssen, wenn der Verfassungsentwurf tatsächlich vorliegen soll, bevor der Termin zu Ende geht, in dem das Verfassungsgericht möglicherweise die Versammlung auflösen könnte. Die zentrale Mehrheit der Brüder und ihrer Gesinnungsgenossen versucht, dieses Ziel zu erreichen. Doch je mehr sie darauf dringt, indem sie ihre Mehrheit einsetzt, um vorwärts zu kommen, desto mehr verschärft sie den Widerstand und die Klagen der beiden Randgruppen über "unrepräsentative" Beschlüsse, wie sie "die Diktatur der Muslimbrüder" unter Druck durchsetze.
Wenn diese Klagen wirklich zum angedrohten Rücktritt der Randgruppen aus der Versammlung führten, würde dies möglicherweise das Urteil der Verfassungsrichter beeinflussen, denn die Behauptung, die Versammlung sei nicht oder nicht mehr repräsentativ, würde dadurch glaubhafter.
Angeschlagene Autorität der Richter
Dies ist gewissermassen die Zwickmühle, in der sich die grosse Politik des Niltals bewegt, bei der es um die künftige Verfassung geht. Ihre Linie wird aber durchquert durch die "kleine Politik", die sich um die Möglichkeiten und Aussichten einer Justizreform dreht. Dies ist eine zentrale Frage für die gegenwärtigen Richter, besonders die hochgestellten unter ihnen, denn sie waren alle von Mubarak eingesetzt, und es besteht Grund zur Vermutung, dass sie ihre Karriere dadurch förderten, dass sie sich gegenüber den Wünschen Mubaraks flexibel erwiesen. Die Muslimbrüder waren damals die - mindestens in ihren eigenen Augen - zu unrecht verurteilten Opfer dieser Flexibilität der Richter des abgesetzten Machthabers. Mursi hat kürzlich vergeblich versucht, den Obersten Staatsanwalt abzusetzen.
Ein Damokles-Schwert über den Richtern
Die heute amtierenden Richter dürften sich dieser Bedrohung für ihre Amtsausübung sehr bewusst sein. Natürlich gibt es auch unter den Richtern solche, die den Muslimbrüdern nahestehen und die im Falle einer Reform in Spitzenpositionen aufsteigen könnten. Dies ist der Grund, weshalb sich die politischen Gegner der Brüder, besonders jene auf dem säkularen Flügel, eher hinter die Richter Mubaraks stellen, als dass sie eine Reform unter der Leitung der Brüder befürworteten.
Die Richter selbst müssen sich fragen: Was ist besser für unsere Position, dass die Versammlung aufgelöst wird und Mursi die nächste Verfassungsversammlung ernennt? Oder dass die Versammlung bestehen bleibt und einen Verfassungsentwurf vorlegt, der in erster Linie den Vorstellungen der Brüder entspricht? Beide Alternativen dürften den Wünschen und Hoffnungen der hochgestellten aber gefährdeten Richter nicht sehr gelegen kommen.
Zeitgewinn zum Schaden Ägyptens?
Es bleibt ihnen noch eine weitere Möglichkeit: Sie können auf Zeitgewinn spielen, etwa indem sie die Versammlung auflösen, Mursi eine neue ernennen lassen und diese dann auch als unzulässig erklären. Dies wäre wahrscheinlich für sie und ihr Verbleiben in Amt und Würden die aussichtsreichste Taktik. Für das Wohlbefinden des Landes Ägypten jedoch die verderblichste, denn das politische Provisorium würde auf diesem Weg immer verlängert werden, mit den überaus gefährlichen Folgen, die dies für die ohnehin angeschlagene Stabilität und Wirtschaft des Nillandes zeitigen müsste.