Im April noominierte UN-Generalsekretär António Guterres den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten und Direktor des Internationalen Weltwährungsfonds, Horst Köhler, für den Posten eines Sondergesandten der Vereinten Nationen für die Westsahara. Sollte der UN-Sicherheitsrat der Nominierung zustimmen, kommt auf Köhler eine kaum lösbare Aufgabe zu.
Keine konsequente Sanktionspolitik
Denn anders als im Fall Russland, das der Westen nach der Besetzung der Krim mit Sanktionen belegte, pflegen die USA und die EU bei ähnlichen Vergehen durch Verbündete oder wenigstens westlich orientierte Staaten von solcher Bestrafung abzusehen. So kann Israel die Westbank seit 50 Jahren nicht nur besetzen, sondern sogar besiedeln. Indonesien konnte Osttimor 25 Jahre lang ungestraft besetzen und die Bevölkerung unsäglicher Pein aussetzen (250‘000 Menschen, so schätzte Osttimors Bischof und Friedensnobelpreisträger Carlos Belo, kamen unter der indonesischen Besatzungszeit um.), ohne jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Und obwohl die Vereinten Nationen zu Beginn des dritten Jahrtausends ein zweites Jahrzehnt der Entkolonisierung ausgerufen haben, verfügen sowohl Frankreich als auch England noch ungestraft über Kolonien. Frankreich hat sie einfach umbenannt in Pays d’outre-mer oder Départements d’outre mer, andere sind als ultraperiphere Regionen der EU integriert, womit sie denselben Status haben wie die Azoren und Madeira (portugiesisch) oder die Kanaren (spanisch). Befragt wurden die betroffenen Bewohner dieser Gebiete nie.
Zehn Territorien mit insgesamt 220‘000 Einwohnern sind immer noch von Grossbritannien abhängig: Anguilla, Bermuda, Kaiman, Turks und Caicos sowie die Britischen Jungferninseln; im Südatlantik Sankt Helena und die Falklandinseln. Oder die UN-Liste der abhängigen Gebiete führen sie gleich gar nicht auf, so etwa das British Indian Ocean Territory (Biot) mit dem Diego-Garcia-Atoll, dessen Bewohner in den siebziger Jahren einfach nach Mauritius deportiert wurden, weil Grossbritannien ihre Insel an die US-Navy verpachtete.
Ohne das Druckmittel Sanktionen aber wird Köhler die UN-Resolutionen und das Selbstbestimmungsrecht der Sahraouis in der Westsahara nicht durchsetzen können. Dabei ist der Wunsch nach Selbstbestimmungsrecht und Unabhängigkeit in der Westsahara schon so alt wie die Kolonisation des Landes, als sich Frankreich und Spanien das Gebiet im Nordwesten Afrikas teilten.
Spaniens Verantwortung
1912 – Spanien hatte seine Ansprüche zuvor in den beiden sogenannten Rifkriegen geltend gemacht – nach dem Vertrag von Fez (in dem der Sultan von Marokko zugunsten Frankreichs auf seine Souveränität verzichtete) und dem französisch-spanischen Vertrag besetzten Frankreich und Spanien Marokko. Doch die Kämpfe zogen sich noch Jahre hin. Erst 1926 gelang es Spanien, das gesamte Protektoratsgebiet zu erobern, nachdem es über 10‘000 Senfgasbehälter abgeworfen hatte. 1934 kam auch die Westsahara unter spanische Kontrolle und wurde von einem spanischen Militärgouverneur regiert.
1956 regierte der bis dahin machtlose Sultan Tanger und den nördlichen Teil des Landes, den Frankreich ein Jahr zuvor in die Unabhängigkeit entlassen hatte. 1958 und 1965 folgte auch der Rest Marokkos unter spanischer Herrschaft in die Unabhängigkeit. Einzige Ausnahmen waren die bis heute existierenden spanischen Enklaven an der Mittelmeerküste Ceuta und Melilla sowie die Westsahara im Süden, in der Spanien Phosphat abbaute.
1963 setzten die Vereinten Nationen das Gebiet auf die Liste jener Länder, die zu entkolonialisieren seien. 1975, als sich Spanien aus der Westsahara zurückzog, bestätigte die Vollversammlung der Vereinten Nationen das Selbstbestimmungsrecht der Bewohner der Spanischen Sahara noch einmal. Doch Madrid lehnte den UN-Beschluss ab, womit Spanien als erstes Land für die bis heute anhaltenden Probleme in der Region verantwortlich zeichnete.
Marokkos willkürliche Annexion
Daraufhin organisierte König Hassan II. den sogenannten „Grünen Marsch“, und am 5. November strömten 350‘000 Marokkaner (zehn Prozent davon Frauen) in die vormalige spanische Kolonie, während über 100‘000 Einheimische aus dem Gebiet ins benachbarte Algerien flohen. Am 14. November unterzeichneten Spanien, Marokko und Mauretanien schliesslich ein Dreiparteienabkommen, in dem Marokko die nördlichen zwei Drittel der Westsahara und Mauretanien das südliche Drittel zugesprochen wurden.
Am 16. November 1975 jedoch schloss sich der Internationale Gerichtshof in Den Haag der Auffassung der UN-Vollversammlung von 1965 an und entschied: „Das Urteil ist somit klar: Die Ansprüche Marokkos auf die Westsahara werden vom Gerichtshof nicht gestützt, und das Recht auf Selbstbestimmung des sahraouischen Volkes wird bestätigt.“
Flüchtlinge und Widerstand
Unter den in der Region lebenden Stämmen der Sahraouis formierte sich Widerstand gegen die marokkanische und mauretanische Herrschaft. (Die Sahraouis sind eine Ansammlung diverser Stämme und Clans wie den Reguibat, den Teknas, den Ouled Denim u. a.) Sie fühlten sich von Spanien verkauft, verkauft an Marokko für 400 Millionen Dollar (So stark wurden die spanischen Interessen an den Phosphatminen von Bu Craa geschätzt.) und die spanischen Fischereirechte an der äusserst ertragreichen Küste der Westsahara. 1973 schon hatten sie die Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro, kurz Frente Polisario, gegründet und den Kampf gegen die damalige Kolonialmacht Spanien aufgenommen.
1976 proklamierte die Polisario – die wohl einzige bedeutendere Unabhängigkeitsbewegung Afrikas, die keine direkte Hilfe aus der UdSSR erhielt – die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS). Die Sahraouis und ihre Widerstandsorganisation Polisario leben in mindestens zwei Dutzend Lagern im Grenzgebiet bei Tindouf. Ihnen mangelte es nicht nur an Waffen sondern auch an Nahrungsmitteln, Medikamenten, Zelten, Decken etc. Alles, was sie brauchten, wurde ihnen von Algerien und Libyen sowie zu einem geringeren Teil von internationalen Hilfsorganisationen geliefert.
Ungleich höher war die Militärhilfe, die das Königreich Marokko vom Westen erhielt. Zwischen 1975 und 1990 rüsteten alleine die USA die marokkanischen Streitkräfte mit Waffen im Wert von über zwei Milliarden Dollar auf. Weitere Unterstützung erfuhr Marokko von Frankreich und Spanien.
Mauretanien verzichtet auf seine Ansprüche
Unter den Angriffen der Polisario, die gelegentlich bis in die Hafenstadt Nouadhibou vordrangen, gab Mauretanien seine Ansprüche bald auf und überliess die gesamte Westsahara Marokko. Zum Schutz seines neu erworbenen Gebiets baute Marokko Wälle um die wichtigsten Städte und Orte, wie El Ayoun, Lemsid, Remz Elbén, Ras el Khanfra, Semara oder Bu Craa, und setzte beinahe die Hälfte der königlichen Streitkräfte ein, 120‘000 Mann. Marokkos Luftwaffe bombardierte Guerillapositionen und gelegentlich auch die Flüchtlingslager im angrenzenden algerischen Gebiet um den Militärstützpunkt Tindouf. Marokkanische Kriegsschiffe patrouillierten die Küste von Agadir bis Mauretanien.
Erfolglose Vermittlungsbemühungen
Wiederholte Bemühungen der OAU (Organisation of African Unity) zur friedlichen Beilegung des Konflikts, denen sich die Generalversammlung der UNO angeschlossen hatte, scheiterten am Widerstand Marokkos, das sich einer Anerkennung der Polisario hartnäckig widersetzte. Zudem wurde regelmässig der Rückzug der marokkanischen Truppen und des zivilen marokkanischen Verwaltungspersonals gefordert. Am 11. August 1988 präsentierten der UN-Generalsekretär und sein Sondergesandter einen weiteren „Vorschlag für eine gerechte und endgültige Lösung der Westshara-Frage“, der sich an der UN-Resolution 1514 (XV) vom 14. Dezember 1960 orientierte, eine allgemein gehaltene „Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker“. Demnach sollte nach einem Waffenstillstand ein Referendum durchgeführt werden, „um den Menschen der Westsahara die Möglichkeit zu geben, ihr Recht auf Selbstbestimmung auszuüben und zwischen Unabhängigkeit und Anschluss an Marokko zu wählen“.
1991 entsandte der UN-Sicherheitsrat die „Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un référendum au Sahara occidental“, an der sich von 1991 bis 1994 auch eine Schweizer Mediziner-Einheit beteiligte. Seit 2011 unterstützten zwei Schweizer Minenräumspezialisten die Mission, und auf Anfrage der UN beschloss der Bundesrat 2014, der Mission sechs unbewaffnete Militärbeobachter zur Seite zu stellen.
Auch Ex-US-Aussenminister James Baker gibt auf
Doch weder die hohen Kosten des Konflikts, der jedes Jahr zwischen 25 und 30 Prozent des marokkanischen Staatshaushalts verschlingt, noch der Rückgang des Phosphatpreises auf dem Weltmarkt, konnten Rabat bisher zum Einlenken bewegen. 2004 gab der UN-Sondergesandte und ehemalige US-Aussenminister James Baker resigniert auf, nachdem beide Seiten seinen Vorschlag abgelehnt hatten, die Westsahara zu einem autonomen marokkanischen Gebiet zu erklären. Im März dieses Jahres erklärte auch Bakers Nachfolger, Christopher Ross, seinen Rücktritt, weil auch seine Lösungsversuche ins Stocken geraten waren.
Ohne Druckmittel keine Lösung
Der Mangel, UN-Beschlüsse durchsetzen zu können, sei „hier wie anderswo eine Schwäche bei der Suche nach Konfliktlösungen im einvernehmlichen System des internationalen Rechts“, bemängelte Mohammed Cherkaoui, Professor für Konfliktlösung an der George-Mason-Universität und ehemaliges Mitglied der UN-Expertenkommission. „Das Recht auf nachkoloniale Selbstbestimmung ist darum sehr schwach.“ Den Vereinten Nationen seien die Hände gebunden. Darum hänge eine Lösung davon ab, „dass Marokko die Unabhängigkeits-Option akzeptiert oder davon, dass die Polisario eine ihrer besten Karten weggibt“.
Perspektivlosigkeit fördert Radikalisierung
Nomaden oder Seminomaden wie die Sahraouis pflegen traditionell einen sehr toleranten Islam. „Aber in den Lagern gibt es nichts zu tun“, erklärt der Lyriker Limam Boisha in Tindouf, dessen Gedichte von Palmen und Weite und Einsamkeit und Trauer handeln. Aus Frust und Perspektivlosigkeit schliessen sich vor allem junge Männer der al-Kaida oder anderen islamistischen Bewegungen an.
Im Oktober 2011 wurden zwei Spanier und ein Italiener, die für eine humanitäre Organisation arbeiteten, aus einem Flüchtlingslager bei Tindouf entführt. Als sie neun Monate später freigelassen wurden, wurde im nordmalischen Gao ausgelassen gefeiert. Angeblich hatte die Mouvement pour l’unicité et le jihad en Afrique de l’Ouest, kurz Mujao, 15 Millionen Euro Lösegeld kassiert. Wie der Journalist Marc Engelhardt in seinem Buch „Heiliger Krieg – heiliger Profit“ berichtet, sollen inzwischen gut 300 Sahraouis in den Reihen der malischen Islamisten stehen.