Weihnachten ist nicht umzubringen. Es ist die konkurrenzlos wichtigste Festzeit des Jahres und zeigt keinerlei Abnützungserscheinungen. Ob es sich dabei tatsächlich um eine im Kern religiöse Angelegenheit handelt, ist ziemlich unklar. Genau diese Unklarheit ist das Erfolgsgeheimnis des Phänomens namens Weihnachten. Und dies nicht erst in neuerer Zeit, sondern seit der Erfindung des Geburtsfests Christi.
Vom Sol invictus zum Pantokrator
Weihnachten ist jünger, als man vermuten könnte. Das Fest ist eine Innovation des 4. Jahrhunderts. Das im Römischen Reich zuerst lange unterdrückt gewesene Christentum avancierte damals unter Kaiser Konstantin zur Staatsreligion und begann unverzüglich, den Spiess umzudrehen und Anhänger anderer Kulte zu bedrängen. Um den Status als herrschende Religion zu untermauern, wurde der zur Wintersonnenwende gefeierte, damals noch junge Kult des Sol invictus (des unbesiegten Sonnengottes) kurzerhand mit einem unfriendly takeover umgewandelt zum christlichen Geburtsfest.
Mit der Symbolik des nach der längsten Nacht wieder zunehmenden Lichts bot das Sol-invictus-Fest den idealen Rahmen für eine Feier der christlichen Heilsvorstellung. Der astronomische Übergangspunkt des tiefsten Sonnenstands, nach dessen Durchgang das Tageslicht wieder zunimmt, stimmte überein mit dem christlichen Gedanken, mit der Geburt Jesu sei eine alles zum Guten verändernde Zeitenwende in die Welt gekommen.
Indem die christliche Kirche unverhofft in den Rang der Staatsreligion erhoben war, bekam diese heilsgeschichtliche Vision plötzlich einen eminent machtpolitischen Gehalt. Die christliche Lehre bestimmte fortan autoritativ den grossen gedanklichen Rahmen, in den sich alles zu fügen hatte.
Die Mitte der Zeiten, so die weit ausgreifende theologische Spekulation, war gesetzt mit der Geburt des Gottessohnes. Von dieser Mitte aus gesehen war die Zukunftserwartung der Menschen ausgerichtet auf die Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten. Mit ihr würde das schon in der Schöpfung angelegte Ziel einer universellen Erlösung erfüllt. Das Weihnachtsfest proklamierte als regelmässig im Jahresverlauf verorteter Kult die unverrückbare Gültigkeit dieser «grossen Erzählung» und die daran hängende Macht der christlichen Kirche.
In der liturgischen und frömmigkeitspraktischen Ausprägung stand der Machtaspekt allerdings nicht im Vordergrund, ja, er war vermutlich den meisten Angehörigen der Kirche nicht einmal bewusst. Wurde Christus als der Pantokrator, der alles Erschaffende, dargestellt und entsprechend gefeiert und angebetet, so äusserten die Gläubigen damit Verehrung und unbedingtes Vertrauen in die in Aussicht gestellte Erlösung.
Den mitenthaltenen Machtanspruch, der über die Kirche und ihre Gemeinschaft hinausreichte, dürften die Beterinnen und Beter kaum wahrgenommen haben. Er war aber hintergründig präsent als durchaus nicht rein religiöse Vorstellung. Eine gewisse Unklarheit der Intention war also vom Ursprung her in dieses «Fest der Mitte der Zeiten» eingepflanzt.
Genetisch auf Plastizität programmiert
Lebendige Kulturen und Kulte zeigen à la longue fast immer eine Eigenschaft, die besonders in der Biologie bekannt ist: Plastizität. Dank ihrer Formbarkeit passen kulturelle Manifestationen sich an wechselnde Bedingungen und Einflüsse an. Und obschon sie ihre Inhalte und Formen auf diesem Weg oft in sehr starkem Mass verändern, werden sie doch als Kontinuitäten wahrgenommen, die ihre Identität beibehalten.
Das Weihnachtsfest ist das Paradebeispiel eines Kulturphänomens von hochgradiger Plastizität. Sein genuin unklares Gemisch aus biblischen, frömmigkeitspraktischen, theologisch-spekulativen und machtpolitischen Komponenten hat diesem Fest sozusagen die genetische Ausstattung für stets neue und ausserordentlich erfolgreiche Anpassungen an veränderte Umstände mitgegeben.
Man kann nur staunen, zu welch breitem Spektrum an Mutationen diese Anpassungsfähigkeit geführt hat. Die kulturell, konfessionell und auch kalendarisch unterschiedlichen Weihnachtszyklen bilden heute das globale Fest par excellence. Das Erstaunlichste dabei ist nicht einmal so sehr die enorme Diversität an Brauchtum, die sich weltweit um das religiöse Fest gebildet hat.
Mehr noch beeindruckt die Plastizität des Weihnachts-Clusters bei der Anpassung an andersreligiöse und nichtreligiöse Umfelder. So ist etwa in der islamischen Welt das Weihnachtsfest als Feier der Lichter und des Schenkens weithin höchst populär, und dies trotz der erstarkten islamistischen Strömungen, die darin eine zu verurteilende Verwestlichung erblicken.
Ein ähnliches Weihnachten ohne traditionell christliche Bezüge funktioniert auch im Westen ganz hervorragend. Die Symboliken des Festes sind problemlos übersetzbar in ein vages zivilreligiöses Wertemuster des Friedlichen, Besinnlichen und Gemeinschaftlichen. Lichterglanz und Weihnachtsschmuck heben die Festzeit aus dem Alltag heraus, Geschenke signalisieren Zuwendung. Das alles braucht keinen religiösen Über- oder Unterbau.
Mutation zum Subversiven
Selbst unter Bedingungen offizieller Zurückweisung christlicher Gehalte ist dem Fest die Vitalität nicht zu nehmen. Stalin sah sich 1937 gezwungen, für das von den Bolschewisten mit dem Revolutionskalender abgeschaffte Weihnachtsfest einen Ersatz zu bieten: das Jolka, ein Tannenfest, dessen weihnächtliche Aspekte man zwar offiziell leugnen, aber dennoch nicht völlig unterdrücken konnte.
Aus der DDR ist überliefert, dass die als öffentliche Weihnachtssymbole tabuisierten Engel angeblich in «Jahresendflügelfiguren» umbenannt wurden. Es ist allerdings laut Wikipedia nicht ganz geklärt, ob das Wort eine Parodie der von der Partei verordneten Sprache war oder ob es tatsächlich ernst gemeint war. So oder so, im kommunistischen Machtbereich war die Weihnacht aus der Öffentlichkeit verbannt und trotzdem unübersehbar anwesend. Die Zensurierung alles explizit Christlichen hat dies nicht verhindert. Die Plastizität des Weihnachtsfests hat auch Mutationen zum Subversiven hin möglich gemacht.
Anders liegen die Dinge beim Bannstrahl der multikulturellen Korrektheit, welcher das öffentliche Zelebrieren oder nur schon Benennen der Weihnacht in den USA und deren direktem Einflussbereich unter Kuratel stellt. So werden statt Grussbotschaften und Segenswünschen zu Weihnachten «Seasons greetings» ausgetauscht, um ja keine Adressaten zu vergraulen, die nicht christlich orientiert sind.
Das hindert die Amerikaner aber nicht daran, den öffentlichen Raum extensiv mit Insignien des Christfests zu überziehen. Die Präsentationen des gigantischen Christmas Tree beim Rockefeller Center in New York (Bild ganz oben) und der Weihnachtsdekoration im Weissen Haus (bekanntlich die Domäne der jeweiligen First Lady) werden alljährlich als vorweihnächtliche Ereignisse zelebriert, die mit einer allgemeinen Eruption des Lichterzaubers und des Schmückens im Land einhergehen.
Frei flottierende Gefühligkeit
Symbolik und Betriebsamkeit des Weihnachtsfests erzeugen weltweit ein Amalgam von Mega-Event, Geschäft und Emotionalität, das eine Art Ausnahmezeit heraufbeschwört. Diese Festperiode, obschon in ihrem Wesen völlig säkularisiert, übernimmt vom religiösen Kult die Gefühlswelt des Angerührtseins von «etwas Grösserem», ohne dieses zu benennen oder bewusst zu intendieren. Der Umstand, dass sie frei flottiert, macht die weihnächtliche Gefühligkeit unkontrollierbar und erst recht potent.
Emotionalität in Verbindung mit inhaltlicher Unklarheit machen wie eh und je die Unwiderstehlichkeit des Festes aus. Diese genuinen Eigenschaften prädestinieren das Weihnachtsfest nicht zuletzt für seine Nähe zum blossen Effekt, auch Kitsch genannt. Denn dieser ist, folgt man der berühmten Definition Richard Wagners aus seiner Kritik an den Opern Meyerbeers, nichts anderes als «Wirkung ohne Ursache».
Angewendet auf unseren Fall: Wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit erzeugt das globalisierte Weihnachten so etwas wie Emotion ohne Anlass. Das dürfte der Grund sein, weshalb die Wirkungen des Weihnachtsfests auch für diejenigen unentrinnbar sind, die am liebsten gar nichts mit ihm nichts zu tun haben wollen.
Individuelle Anpassungen
Es soll ja nicht wenige Menschen geben, die unter der Weihnacht leiden und sich deswegen – mit unsicherem Erfolg – dem Rummel zu entziehen suchen. Andere schliessen mit dem unentrinnbaren Fest ihren Frieden, indem sie es für sich ausblenden, so gut es eben geht, und sich im Übrigen an Einzelheiten halten, an denen sie sich zu freuen vermögen. Wieder andere packen den Stier bei den Hörnern, indem sie die Sache durchziehen mit konsequenter Befolgung familiärer Weihnachtstraditionen und dabei keine Zweifel zulassen, dass dies das Schönste überhaupt sei.
Kraftakte, wohin man schaut: Vermeidung, Arrangement oder Flucht nach vorn. Doch mit diesen eher anstrengenden Arten des Umgangs mit dem unvermeidlichen Fest ist das Repertoire der Möglichkeiten, Weihnachten zu feiern oder zu überleben, glücklicherweise nicht ausgeschöpft. Das Prinzip der Plastizität funktioniert nicht nur bei der Geschichte und weltweiten Ausbreitung der Weihnachtstradition, sondern auch bei denen, die das Fest begehen oder ihm ausgesetzt sind.
Der globale Weihnachtsrummel hat die Qualität einer allgemeinen temporären Weltveränderung. Man passt sich an sie an wie an ein Wetterphänomen und benutzt dabei eine Auswahl vorgeprägter Verhaltensmuster sowie eigene, individuelle Strategien. So können denn Gläubige und Agnostiker, Skeptische und Experimentierende, Begeisterte und Genervte, Traditionalisten und Zeitgeist-Surfer sich individuell auf Weihnachten einstellen und nach Gusto und Gelegenheit Einzelnes von diesem Cluster an sich heranlassen: Kindheitserinnerungen, Momente der menschlichen Nähe, liebgewordene Rituale, vertraute Gerüche, das «Friede auf Erden!», berührende Lieder, altvertraute Geschichten, grosse Musik und – warum nicht? – ein bisschen Kitsch. Sie legen sich damit auf nichts fest, sondern bleiben im Unbestimmten, und gerade so bewegen sie sich auf der Höhe des Lichterfests, das uns Jahr für Jahr heimsucht und, wenn wir mitspielen, erfreut.
In diesem Sinn: entspannte Weihnachten!