Kein Zweifel: Die Anrede «Du» ist auf dem Vormarsch. Ein Weltkonzern wie Apple duzt selbstverständlich seine deutschsprachigen Kunden. Auch andere Auskünfte und Anleitungen im Internet sind in dieser vertrauliche Anrede verfasst.
Eine führende deutsche Tageszeitung hat in ihrer Rubrik «Beruf und Chance» dieses Thema in diesen Tagen noch einmal aufgegriffen. Zwei Frauen, eine jüngere und eine ältere, diskutierten die Vor- und Nachteile des Duzens und Siezens. Die jüngere sperrt sich gegen die vermeintliche Verkrampfung des formellen Sie, die Ältere sieht aber gerade in dem Spiel mit Distanz und Nähe einen grossen Reiz und wehrt sich gegen «eine grauenhafte Distanzlosigkeit».
Man kann noch einen Schritt weiter gehen und das Thema der Anrede aus der Perspektive der Trendforschung betrachten. Schon vor längerer Zeit hat der Schweizer Trendforscher David Bosshart darauf aufmerksam gemacht, dass sich die moderne Konsumkultur in die Richtung zunehmender Vulgarisierung bewegt. Da alles für jeden jederzeit verständlich und vor allem begehrenswert sein muss, damit er es konsumieren will, werden Subtilitäten schlicht und einfach zu kostspielig. Es sei denn, sie werden bewusst gepflegt, um damit eine kleine und entsprechend exklusive Konsumentenschicht anzusprechen. Das wäre also eine spezielle Marketingstrategie.
Strategen aber, die ihre zwar hochwertigen Produkte in einem Massenmarkt platzieren wollen, werden bewusst alles vermeiden, was irgendwie elitär oder exklusiv wirken könnte. Womit wir wieder bei Apple wären. Dem «Du» von Apple entspricht eine Strategie, die man früher in eher konservativer Perspektive als «Gleichmacherei» bezeichnet hätte. Das teure und technisch absolut elitäre iPhone wird über das «Du» zur Ausstattung für jeden.
In Zeiten der Siez-Kultur aber hatte auch das «Du» eine exklusive Seite: Entweder war es ein Zeichen für eine besondere Vertraulichkeit oder für eine Zugehörigkeit: zur Familie, zum Verein, einer Abteilung in einer Firma oder einer Berufsgruppe. Es war ein schwerer Fauxpas, das «Du» zu verwenden, wenn man nicht durch Zugehörigkeit dazu berechtigt war. Diejenigen, die das «Du» heute zur generellen Anrede machen wollen, möchten damit die Seite der Exklusivität, die mit dem «Du» bislang auch verbunden war, eliminieren.
Entsprechend gehen mit dem unentrinnbaren «Du» zwei Tendenzen einher, die unter anderen Vorzeichen früher einhellig abgelehnt worden wären:
Die eine Tendenz betrifft die Ablehnung jeglicher Exklusivität, die sich heute auch in der Kleidung ausdrückt. Sport- und Freizeitkleidung hat alle Unterschiede, die früher für unterschiedliche Anlässe galten, eingeebnet. Wer Bilder aus früheren Zeiten anschaut, erkennt, wieviel Sorgfalt auf die Kleidung mit ihren vielen Zeichen von Unterschieden und Zugehörigkeiten gelegt wurde. Was der Sozialismus nicht erreicht hat, ist heute im Zeichen des Marktes zum selbstverständlichen Eindruck der Gleichheit aller geworden.
Die andere Tendenz betrifft die Gefährdung der Würde. Das «Du» kann in vielen Fällen harmlos und durchaus auch angenehm sein. Wenn man sich aber in völliger Abhängigkeit von Ärzten oder Pflegern befindet, möchte man doch lieber als «Sie» angesprochen werden, um die kleine, aber entscheidende Differenz zu einem blossen Objekt des Gesundheitssystems zu markieren. Das «Sie» drückt die Würde des Menschen als Subjekt aus. Es ist ein Bollwerk gegen die «grauenhafte Distanzlosigkeit».
Es mag altmodisch erscheinen, aber es gibt gute Gründe dafür, sich gegen die Unentrinnbarkeit des «Du» zu sperren.