Das Gedächtnis ist kein Archiv, in dem Dokumente der Vergangenheit mehr oder weniger geordnet aufbewahrt werden. Denn das würde bedeuten, dass einmal eingelagerte Dokumente zwar verlorengehen können, sich aber ansonsten nicht verändern. Entsprechend könnte man sie, wenn sie richtig eingeordnet sind, aus den Regalen nehmen, betrachten und wieder zurückstellen, wobei sie sich gleich blieben. Das aber ist eine Illusion.
Assoziationen und Emotionen
Die Rechtspsychologin und Gedächtnisspezialisten Julia Shaw von der „Londoner South Bank University“ verbindet in ihrem Buch Einsichten der modernen Neurowissenschaften mit neuesten Experimenten der Psychologie. Aus der Physiologie des Gehirns und der Art und Weise, wie Gedächtnisinhalte untereinander über Assoziationen, aber auch mit Emotionen verknüpft sind, ergibt sich, dass bei jedem Abruf der Erinnerungen ein dynamischer Prozess in Gang gesetzt wird: „Jedes Ereignis wird so jedes Mal, wenn es abgerufen wird, physiologisch anfällig für Verzerrungen und Vergessen.“
Das ganze Buch zielt darauf, den Lesern klar zu machen, „dass wir alle ein bedenklich fehlerhaftes Gedächtnis haben.“ Die Autorin meint aber nicht, dass wir grundsätzlich Erinnerungen analog wie „fake news“ ansehen sollten oder dass der Gedächtnisapparat etwas Minderwertiges wäre. Ganz im Gegenteil: Der Apparat funktioniert auf seine Weise ganz wunderbar, aber wir neigen dazu, ihn oftmals falsch zu bedienen und seine Ergebnisse falsch zu interpretieren. Das wiederum ist äusserst spannend.
Das Gehirn und die U-Bahn
Julia Shaw schreibt sehr anschaulich, und an einer Stelle findet sie ein besonders einprägsames Bild für die Funktionsweise unseres Gehirns beziehungsweise unseres Gedächtnisses: das Londoner U-Bahn-Netz. Vereinfacht gesagt lassen sich einzelne Erinnerungen als neuronale „Netzknoten“ im Gehirn vorstellen. Sie entsprechen den Stationen der U-Bahn. Im Prinzip kann man von jeder Station aus jede andere erreichen, wobei der Aufwand bezüglich der erforderlichen Strecken und Umsteigenotwendigkeiten unterschiedlich gross ist. Zudem können Bahnverbindungen zusammenbrechen. In diesem Fall wird ein „Knoten“ nicht erreicht.
Erinnerungen sind nicht nur untereinander mehr oder weniger eng verknüpft, sondern sie sind auch mit Emotionen verbunden. Bei einer Emotion wie Angst oder umgekehrt Freude können die entsprechenden Erinnerungen wie von selbst auftauchen. Umgekehrt können die Erinnerungen angenehme oder unangenehme Emotionen wachrufen. Shaw beschreibt, wie man sich diesen Zusammenhang zur Steigerung der Gedächtnisleistungen zunutze machen kann.
Das Gedächtnis kann aber nur funktionieren, wenn es regelmässig Erinnerungen, die nicht mehr gebraucht werden, löscht. Menschen, bei denen das nicht geschieht, erinnern sich bis zur Erschöpfung an Details ohne Ende. Der Schlaf ist, so Shaw, ein „Off-Line-Zustand“, in dem das Gehirn die Eindrücke des Tages noch einmal Revue passieren lässt und Löschungen vornimmt.
Falsche Erinnerungen
Ein besonderes Augenmerk liegt bei Julia Shaw auf der Möglichkeit der gezielten Manipulation von Erinnerungen. Dazu haben sie und ihre Kollegen Probanden, die ganz bestimmte Erinnerungen haben, gezielt mit erfundenen Vorgängen konfrontiert, die mit den erzählten Ereignissen zusammenhängen könnten, faktisch aber nicht stattgefunden haben. Nach kurzer Zeit waren sich die Probanden der falschen Erinnerungen völlig sicher.
Als Rechtspsychologin weist Julia Shaw wieder und wieder darauf hin, dass derartige Prozesse auch völlig unbeabsichtigt in Gang gesetzt werden. Wenn zum Beispiel bei Zeugenbefragungen Polizisten Sachverhalte ins Feld führen, die eine Rolle gespielt haben könnten, de facto aber nicht gespielt haben, können sich am Ende die Zeugen fälschlich an genau diese Umstände oder Ereignisse erinnern.
Knapper Arbeitsspeicher
Diese Mechanismen sind besonders fatal bei gewissen Missbrauchsprozessen, auf die Shaw eingeht. Und sie übt sehr harsche Kritik an den landläufigen „Critical Incident Stress Debriefings“, weil sich dabei innerhalb der jeweiligen Gruppe gerade die traumatischen Erinnerungen akkumulieren. So hat der eine Helfer bei einer Katastrophe keine besonders schauerlichen Einzelheiten wahrgenommen, der andere aber schon, und so verknüpfen sich die Erinnerungen und können Traumata bei jenen auslösen oder verstärken, die mit eigenen Augen gar nicht so viel Schreckliches gesehen haben. Shaw nennt das die „verbale Überschattung“.
Ein weiterer Punkt, den sie mit Lust aufs Korn nimmt, ist das Multitasking. Das funktioniere deswegen nicht, weil unser Kurzzeitgedächtnis nur etwa 5 bis maximal 9 Informationen speichern könne. Es ist praktisch der Arbeitsspeicher, den wir zur Erledigung von Aufgaben benötigen. Wenden wir uns parallel zur bestehenden Aufgabe einer anderen zu, reicht der Arbeitsspeicher nicht aus. Das Gehirn schaltet um, und das erfordert Zeit und Energie. Es entstehen Pausen, die wir aber nicht unbedingt bemerken und uns daher einbilden, zwei oder mehrere Dinge parallel zu erledigen.
Selbstüberschätzung
Überhaupt täuscht sich das Gedächtnis sehr stark bei der Zeitwahrnehmung. In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung von Shaw recht witzig, dass wir bei Arbeiten, die wir selber erledigt haben, längere Zeiträume im Gedächtnis speichern als bei denen, die andere erledigen. Auf diese Weise entstehen zum Beispiel sehr kontroverse Einschätzungen bezüglich der Anteile bei der Hausarbeit.
Julia Shaw ist es gelungen, anspruchsvolle Erkenntnisse der Neurobiologie und Psychologie mit praktischen Alltagserfahrungen zu verknüpfen. So wird man sich im Alltag immer wieder an ihre Darlegungen erinnern.
Julia Shaw, Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. Aus dem Englischen von Christa Boermann, 302 Seiten, Carl Hanser Verlag, München 2016