Im Krieg beschädigt, im Frieden zerstört, heute verschwunden. Wollseifen war einmal ein kleines Dorf tief im Westen Deutschlands. Im August 1946 mussten es seine Bewohner verlassen, weil dort ein Truppenübungsplatz entstand. Und heute?
Wollseifen war einmal ein kleines Dorf tief im Westen Deutschlands. Im August 1946 mussten es seine Bewohner verlassen, weil dort ein Truppenübungsplatz entstand. Und heute?
Im Herbst, wenn die Sonne die Frühnebel aufgelöst und nur noch klare Luft hinterlassen hat, reicht der Blick von der Dreiborner Hochfläche besonders weit ins Land hinaus. Ganz im deutschen Westen, über den Talsperren der Eifel-Flüsschen Urft und Rur in rund 500 Metern Höhe gelegen, zieht sich das weitgehend baumlose Plateau tief in Richtung Belgien, während sich im Norden und Nordosten, zwischen den Grossstädten Aachen und Köln, gut erkennbar die weissen Dampfschwaden aus den Kühltürmen der Kraftwerke im rheinischen Braunkohlerevier in die blaue Atmosphäre türmen. Ruhig ist es hier oben, nur Wanderer nutzen die angenehme Wetterlage für Ausflüge in den Naturpark Eifel – freilich meistens verbunden mit einem besonderen Erlebnis.
Dieses Erlebnis besteht allerdings zunächst weitgehend aus – nichts. Allerdings hat dieses Nichts einen Namen: Wollseifen. Denn dort, wo die zahlreichen Wanderwege zuzsammenkommen, existierte einmal ein Dorf. Und zwar beinahe bis in die Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Ein richtiges Bauerndorf mit ungefähr 550 Einwohnern, Höfen, Vieh, einer Volksschule, einer Kirche. Halt praktisch aus allem bestehend, was so ein Dorf ausmacht. Die aktuellen Land- und Wanderkarten versehen diesen Ort freilich mit der Bezeichnung „Wüstung“. Genauer: „Wüstung Wollseifen“. Der eifeler Volksmund, indessen, hat einen anderen Begriff für den Flecken dort oben gefunden: das „tote Dorf“.
Museum und Mahnmal zugleich
Ein „totes Dorf“? Tatsächlich versammelt sich in diesen zwei Worten praktisch alles, was im weitesten Sinne überall Leben, Streben, Wirken, Leiden und Freude von Menschen ausmacht. Nur dass, abgesehen von ein paar alten Fotos und zwei restaurierten Gebäuden, nichts mehr darauf deutet. Nichts mehr auf die einstigen bäuerlichen Mühen, dem kargen Boden Kartoffeln und ein wenig Getreide abzutrotzen. Und auch nichts mehr von dem Spass der Kinder im Winter beim Rodeln im Schnee. Heute trifft der Wanderer – denn nur zu Fuss kann das weite Areal erkundet werden – in Wollseifen nur noch auf die einstige, zweiklassige Volksschule und die Kirche St. Rochus. Aber auch diese Beiden wurden erst vor wenigen Jahren wieder begehbar gemacht – sozusagen als Museum und Mahnmal zugleich.
Die Geschichte des Dorfes Wollseifen geht nachweislich zurück bis ins Jahr 799 – also bis in die Epoche, in der zumeist vom nahen Aachen aus Karl der Grosse mit Kreuz und Schwert sein Frankenreich schuf. Für die Siedler auf der Höhe der rauen, kalten und windigen Eifel mit ihren steinigen Böden muss das Leben schwer gewesen sein. Darauf weist, in gewisser Weise, schon der Name hin. Obwohl in den Bergregionen des deutschen Westens immer auch genügsame Tiere wie Schafe gehalten wurden, diente doch nicht deren Wolle als Namensgeber. Genauso wenig, übrigens, wie das allgemein gebräuchliche Säuberungsmittel Seife. Nein, ursprünglich stand (wie die ganz alten Urkunden ausweisen) am Namensanfang „Wolf“. Und „seifen“ ist sprachlich quasi bedeutungsgleich mit Quelle oder Wasser. Jedenfalls nannte man den Ort ganz am Anfang nach einer Tränke, an der die Raubtiere ihren Durst stillten.
Segen und Fluch: Vogelsang
Das wirkliche Schicksal des kleinen Eifeldorfes und seiner Menschen aber hatte weder etwas mit Wölfen noch mit Wasser etwa in Form einer Flutkatastrophe zu tun. Vielmehr war (und ist damit noch immer) Wollseifens Geschichte untrennbar verbunden mit dem Namen „Vogelsang“ (vgl. journal21: „Vogelsang – Trauma und Idylle“). Knapp drei Kilometer von dem Dörfchen entfernt, ebenfalls auf der Höhe und ebenfalls mit Sicht auf den Urftsee, baute die nationalsozialistische Führung in den 30-er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf rund 50’000 Quadratmetern Fläche eine von ursprünglich vier im „Reich“ geplanten „Ordensburgen“. Hier sollten „Junker“ herangezogen werden, junge Männer als künftige Elite der Partei. Daraus wurde, bekanntermassen, nichts. Aber die Gebäude sind nach wie vor vorhanden und – unter anderem als ein höchst bemerkenswertes Museum -– zu besichtigen.
Für die ganze Gegend, besonders jedoch für das kleine Dorf auf dem Plateau, schien damals das Mammut-Projekt Vogelsang zunächst ein Glücksgriff ohnegleichen zu sein. Es gab Arbeit in Menge und sichere Löhne, die Bauern konnten Zimmer vermieten. Und vermutlich hat es sogar die eine oder andere Tochter geschafft, sich einen der nicht selten feschen Junker in spe zu angeln? Doch der scheinbare Segen war nicht von Dauer. Nicht nur, dass die (mittlerweile zu einem grossen Lazarett umfunktionierte) Burg Vogelsang und deren Umgebung während des Krieges immer wieder Ziel von verheerenden Bombenangriffen waren. Vor allem während der eiskalten Wintermonate 1944/45 tobten in der Westeifel entsetzliche Kämpfe, die als „Ardennenoffensive“ und „Allerseelenschlacht“ in die Geschichte eingegangen sind (vgl. journal21: „Hürtgenwald – die Hölle in der Eifel“). Vogelsang wurde damit auch für Wollseifen zum Fluch. Oder, wie Franz-Josef Sistig, bei Kriegsende 17 Jahre alt, einmal zu einem Rundfunkreporter sagte: „Die Burg Vogelsang war unser Untergang. Wenn die Nazis 1934 die Burg nicht gebaut hätten, wären wir zu Hause geblieben.“
Vertrieben, nicht evakuiert
Mit dem Schicksal, dass Wollseifen durch die Kriegsereignisse weitgehend zerstört wurde, stand das Dörfchen auf der Höhe freilich nicht allein. Tatsächlich waren in der letzten Phase des Krieges an der Westfront ungezählte Ortschaften praktisch dem Boden gleichgemacht worden. Doch die vor dem Gemetzel geflüchteten Bewohner kehrten bald zurück in ihre Heimatstätten und begannen mit dem Wiederaufbau. Das tägliche Überleben wurde nicht selten mit dem – durchaus gefährlichen – Schmuggel hauptsächlich von Kaffee aus dem ja nur wenige Kilometer entfernten Belgien organisiert. So taten es auch die Wollseifener. Jedenfalls bis zu dem für sie verhängnisvollen 18. August 1946. Franz-Josef Sistig erinnert sich: „Nach dem Hochamt am Sonntag brachte der von den Alliierten eingesetzte Bürgermeister die Nachricht.“
„Die Alliierten“, das waren dort zunächst die Briten. Und die hatten beschlossen, die Dreiborner Hochfläche in einen Übungsplatz für ihre Soldaten umzuwandeln. Einschliesslich des Dorfes Wollseifen, dessen Einwohner gerade wieder die Strom- und Wasserversorgung hingekriegt hatten. „Bis zum 1. September“, lautete der Befehl der Besatzungsmacht, müsse das Dorf geräumt sein. Vor dem Hintergrund der Härte dieser Verfügung mutet die höfliche Formulierung der britischen Besatzer geradezu zynisch an. „You are requestet ...“, heisst es da auf Englisch – „Sie werden ersucht“, bis in spätestens 12 Tagen alles zu verlassen, was für die Menschen Heimat bedeutete. Die Räumung traf 120 Familien mit 550 Personen. Auch die heute 85-jährige Christel Küpper erinnert sich noch mit Schaudern an die damaligen Ereignisse. „Wir wurden“, sagt sie, „vertrieben, nicht evakuiert“. Ihre Schwester habe vor dem Auszug sogar noch das ganze Haus putzen müssen.
An die Belgier übergeben
Immerhin durften die Bauern in der verbleibenden Zeit noch „die Frucht“ einholen. Also die restliche Ernte – Getreide und Kartoffel. Für die Alten und die Erwachsenen war dies natürlich eine Zeit der Aufregung, der Trauer, der Wut und Verzweiflung. Manche Kinder von damals verbinden damit allerdings auch so etwas wie Spannung und Abenteuer. Obwohl die Briten eine Rückkehr ins Dorf streng untersagt hatten, schlichen sich die Jungs des Nachts hinauf. „Wir hatten“, berichtet einer, „ein kleines Pferd, mit dem bin ich nachts hier rüber und habe quasi unser Eigentum gestohlen“. So wie andere eben auch „organisierten“, was noch brauchbar war: Fenster, Türen, Dachziegel ... Es wäre ja sowieso alles in Trümmer geschossen worden.
1950 wurde das Übungsgelände „Camp Vogelsang“ samt der unvollendeten Ordensburg von den Briten an die Belgier übergeben. Die brauchten ihre Panzer und schweren Waffen gar nicht weit zu bewegen. Nur ein paar Kilometer westlich befindet sich, jenseits der Grenze, das Militärareal Elsenborn – einst (1895) für das preussische VIII. Armeekorps angelegt, als jener heutige Ostbereich Belgiens noch zur preussischen Rheinprovinz gehörte. Als in Wollseifen die alten, verlassenen Häuser und Gehöfte völlig zerschossen waren, baute das belgische Verteidigungsministerium eine ganze Anzahl steinerner Kubusse – eine Art Als-ob-Häuser, in denen Spezialtruppen den Häuserkampf übten. Später nutzen auch andere NATO-Armeen (darunter die Bundeswehr) das rund 40 Quadratkilometer grosse Gelände, bis es schliesslich 2005 aufgegeben wurde. Der Kalte Krieg war ja vorbei.
Immer zum St-Rochus-Fest wird gefeiert
Und heute? Eingezäunt mit Stacheldraht ist die weite Hochebene noch immer. Aber sie ist mittlerweile für jedermann zugänglich. Hölzerne Wegweiser zeigen auf speziell interessante Punkte. Und nicht selten erblickt man auch Wandergruppen, deren Führer an ihren „kanadischen" Hüten als besonders orts- und geschichtskundige Ranger erkennbar sind. Denn der einstige Truppenübungsplatz, einschliesslich der „Wüstung Wollseifen“ ist inzwischen ein beliebter Teil des Naturparks Eifel. Mehr als 75 Jahre nach den dramatischen Geschehnissen von damals ist für die einstigen Bewohner des „toten Dorfes“ das Kapitel Vertreibung weitgehend abgeschlossen. Wenngleich dem einen oder der anderen mitunter doch nochmal die Galle hochkommt, wenn sie daran denken, dass „in den 50-er Jahren die Bundesrepublik Deutschland den alten Besitzern die Grundstücke abgekauft hat – zu gedrückten Preisen“.
Sie haben, vor Jahren schon, einen „Traditionsverein Wollseifen“ gegründet. Der baute die – natürlich ebenfalls zerschossene – Kirche und die alte Volksschule mit ihren zwei Klassenzimmern wieder auf. In dieser geben grossflächige Texttafeln und zahlreiche Fotos Auskunft darüber, wie hart das Leben einstmals war für die Menschen hier auf der Höhe der Eifel. Und einmal im Jahr, am St.-Rochus-Tag, dem 16. August, wird in der Kirche, die einst diesem Heiligen aus dem französischen Montpellier geweiht war, wieder die Messe gesungen. Und danach draussen kräftig gefeiert.
Im Herbst, wenn die Sonne die Frühnebel aufgelöst und nur noch klare Luft hinterlassen hat, reicht der Blick von der Dreiborner Hochfläche besonders weit ins Land hinaus. Ganz im deutschen Westen, über den Talsperren der Eifel-Flüsschen Urft und Rur in rund 500 Metern Höhe gelegen, zieht sich das weitgehend baumlose Plateau tief in Richtung Belgien, während sich im Norden und Nordosten, zwischen den Grossstädten Aachen und Köln, gut erkennbar die weissen Dampfschwaden aus den Kühltürmen der Kraftwerke im rheinischen Braunkohlerevier in die blaue Atmosphäre türmen. Ruhig ist es hier oben, nur Wanderer nutzen die angenehme Wetterlage für Ausflüge in den Naturpark Eifel – freilich meistens verbunden mit einem besonderen Erlebnis.
Dieses Erlebnis besteht allerdings zunächst weitgehend aus – nichts. Allerdings hat dieses Nichts einen Namen: Wollseifen. Denn dort, wo die zahlreichen Wanderwege zuzsammenkommen, existierte einmal ein Dorf. Und zwar beinahe bis in die Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Ein richtiges Bauerndorf mit ungefähr 550 Einwohnern, Höfen, Vieh, einer Volksschule, einer Kirche. Halt praktisch aus allem bestehend, was so ein Dorf ausmacht. Die aktuellen Land- und Wanderkarten versehen diesen Ort freilich mit der Bezeichnung „Wüstung“. Genauer: „Wüstung Wollseifen“. Der eifeler Volksmund, indessen, hat einen anderen Begriff für den Flecken dort oben gefunden: das „tote Dorf“.
Museum und Mahnmal zugleich
Ein „totes Dorf“? Tatsächlich versammelt sich in diesen zwei Worten praktisch alles, was im weitesten Sinne überall Leben, Streben, Wirken, Leiden und Freude von Menschen ausmacht. Nur dass, abgesehen von ein paar alten Fotos und zwei restaurierten Gebäuden, nichts mehr darauf deutet. Nichts mehr auf die einstigen bäuerlichen Mühen, dem kargen Boden Kartoffeln und ein wenig Getreide abzutrotzen. Und auch nichts mehr von dem Spass der Kinder im Winter beim Rodeln im Schnee. Heute trifft der Wanderer – denn nur zu Fuss kann das weite Areal erkundet werden – in Wollseifen nur noch auf die einstige, zweiklassige Volksschule und die Kirche St. Rochus. Aber auch diese Beiden wurden erst vor wenigen Jahren wieder begehbar gemacht – sozusagen als Museum und Mahnmal zugleich.
Die Geschichte des Dorfes Wollseifen geht nachweislich zurück bis ins Jahr 799 – also bis in die Epoche, in der zumeist vom nahen Aachen aus Karl der Grosse mit Kreuz und Schwert sein Frankenreich schuf. Für die Siedler auf der Höhe der rauen, kalten und windigen Eifel mit ihren steinigen Böden muss das Leben schwer gewesen sein. Darauf weist, in gewisser Weise, schon der Name hin. Obwohl in den Bergregionen des deutschen Westens immer auch genügsame Tiere wie Schafe gehalten wurden, diente doch nicht deren Wolle als Namensgeber. Genauso wenig, übrigens, wie das allgemein gebräuchliche Säuberungsmittel Seife. Nein, ursprünglich stand (wie die ganz alten Urkunden ausweisen) am Namensanfang „Wolf“. Und „seifen“ ist sprachlich quasi bedeutungsgleich mit Quelle oder Wasser. Jedenfalls nannte man den Ort ganz am Anfang nach einer Tränke, an der die Raubtiere ihren Durst stillten.
Segen und Fluch: Vogelsang
Das wirkliche Schicksal des kleinen Eifeldorfes und seiner Menschen aber hatte weder etwas mit Wölfen noch mit Wasser etwa in Form einer Flutkatastrophe zu tun. Vielmehr war (und ist damit noch immer) Wollseifens Geschichte untrennbar verbunden mit dem Namen „Vogelsang“ (vgl. journal21: „Vogelsang – Trauma und Idylle“). Knapp drei Kilometer von dem Dörfchen entfernt, ebenfalls auf der Höhe und ebenfalls mit Sicht auf den Urftsee, baute die nationalsozialistische Führung in den 30-er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf rund 50’000 Quadratmetern Fläche eine von ursprünglich vier im „Reich“ geplanten „Ordensburgen“. Hier sollten „Junker“ herangezogen werden, junge Männer als künftige Elite der Partei. Daraus wurde, bekanntermassen, nichts. Aber die Gebäude sind nach wie vor vorhanden und – unter anderem als ein höchst bemerkenswertes Museum -– zu besichtigen.
Für die ganze Gegend, besonders jedoch für das kleine Dorf auf dem Plateau, schien damals das Mammut-Projekt Vogelsang zunächst ein Glücksgriff ohnegleichen zu sein. Es gab Arbeit in Menge und sichere Löhne, die Bauern konnten Zimmer vermieten. Und vermutlich hat es sogar die eine oder andere Tochter geschafft, sich einen der nicht selten feschen Junker in spe zu angeln? Doch der scheinbare Segen war nicht von Dauer. Nicht nur, dass die (mittlerweile zu einem grossen Lazarett umfunktionierte) Burg Vogelsang und deren Umgebung während des Krieges immer wieder Ziel von verheerenden Bombenangriffen waren. Vor allem während der eiskalten Wintermonate 1944/45 tobten in der Westeifel entsetzliche Kämpfe, die als „Ardennenoffensive“ und „Allerseelenschlacht“ in die Geschichte eingegangen sind (vgl. journal21: „Hürtgenwald – die Hölle in der Eifel“). Vogelsang wurde damit auch für Wollseifen zum Fluch. Oder, wie Franz-Josef Sistig, bei Kriegsende 17 Jahre alt, einmal zu einem Rundfunkreporter sagte: „Die Burg Vogelsang war unser Untergang. Wenn die Nazis 1934 die Burg nicht gebaut hätten, wären wir zu Hause geblieben.“
Vertrieben, nicht evakuiert
Mit dem Schicksal, dass Wollseifen durch die Kriegsereignisse weitgehend zerstört wurde, stand das Dörfchen auf der Höhe freilich nicht allein. Tatsächlich waren in der letzten Phase des Krieges an der Westfront ungezählte Ortschaften praktisch dem Boden gleichgemacht worden. Doch die vor dem Gemetzel geflüchteten Bewohner kehrten bald zurück in ihre Heimatstätten und begannen mit dem Wiederaufbau. Das tägliche Überleben wurde nicht selten mit dem – durchaus gefährlichen – Schmuggel hauptsächlich von Kaffee aus dem ja nur wenige Kilometer entfernten Belgien organisiert. So taten es auch die Wollseifener. Jedenfalls bis zu dem für sie verhängnisvollen 18. August 1946. Franz-Josef Sistig erinnert sich: „Nach dem Hochamt am Sonntag brachte der von den Alliierten eingesetzte Bürgermeister die Nachricht.“
„Die Alliierten“, das waren dort zunächst die Briten. Und die hatten beschlossen, die Dreiborner Hochfläche in einen Übungsplatz für ihre Soldaten umzuwandeln. Einschliesslich des Dorfes Wollseifen, dessen Einwohner gerade wieder die Strom- und Wasserversorgung hingekriegt hatten. „Bis zum 1. September“, lautete der Befehl der Besatzungsmacht, müsse das Dorf geräumt sein. Vor dem Hintergrund der Härte dieser Verfügung mutet die höfliche Formulierung der britischen Besatzer geradezu zynisch an. „You are requestet ...“, heisst es da auf Englisch – „Sie werden ersucht“, bis in spätestens 12 Tagen alles zu verlassen, was für die Menschen Heimat bedeutete. Die Räumung traf 120 Familien mit 550 Personen. Auch die heute 85-jährige Christel Küpper erinnert sich noch mit Schaudern an die damaligen Ereignisse. „Wir wurden“, sagt sie, „vertrieben, nicht evakuiert“. Ihre Schwester habe vor dem Auszug sogar noch das ganze Haus putzen müssen.
An die Belgier übergeben
Immerhin durften die Bauern in der verbleibenden Zeit noch „die Frucht“ einholen. Also die restliche Ernte – Getreide und Kartoffel. Für die Alten und die Erwachsenen war dies natürlich eine Zeit der Aufregung, der Trauer, der Wut und Verzweiflung. Manche Kinder von damals verbinden damit allerdings auch so etwas wie Spannung und Abenteuer. Obwohl die Briten eine Rückkehr ins Dorf streng untersagt hatten, schlichen sich die Jungs des Nachts hinauf. „Wir hatten“, berichtet einer, „ein kleines Pferd, mit dem bin ich nachts hier rüber und habe quasi unser Eigentum gestohlen“. So wie andere eben auch „organisierten“, was noch brauchbar war: Fenster, Türen, Dachziegel ... Es wäre ja sowieso alles in Trümmer geschossen worden.
1950 wurde das Übungsgelände „Camp Vogelsang“ samt der unvollendeten Ordensburg von den Briten an die Belgier übergeben. Die brauchten ihre Panzer und schweren Waffen gar nicht weit zu bewegen. Nur ein paar Kilometer westlich befindet sich, jenseits der Grenze, das Militärareal Elsenborn – einst (1895) für das preussische VIII. Armeekorps angelegt, als jener heutige Ostbereich Belgiens noch zur preussischen Rheinprovinz gehörte. Als in Wollseifen die alten, verlassenen Häuser und Gehöfte völlig zerschossen waren, baute das belgische Verteidigungsministerium eine ganze Anzahl steinerner Kubusse – eine Art Als-ob-Häuser, in denen Spezialtruppen den Häuserkampf übten. Später nutzen auch andere NATO-Armeen (darunter die Bundeswehr) das rund 40 Quadratkilometer grosse Gelände, bis es schliesslich 2005 aufgegeben wurde. Der Kalte Krieg war ja vorbei.
Immer zum St-Rochus-Fest wird gefeiert
Und heute? Eingezäunt mit Stacheldraht ist die weite Hochebene noch immer. Aber sie ist mittlerweile für jedermann zugänglich. Hölzerne Wegweiser zeigen auf speziell interessante Punkte. Und nicht selten erblickt man auch Wandergruppen, deren Führer an ihren „kanadischen" Hüten als besonders orts- und geschichtskundige Ranger erkennbar sind. Denn der einstige Truppenübungsplatz, einschliesslich der „Wüstung Wollseifen“ ist inzwischen ein beliebter Teil des Naturparks Eifel. Mehr als 75 Jahre nach den dramatischen Geschehnissen von damals ist für die einstigen Bewohner des „toten Dorfes“ das Kapitel Vertreibung weitgehend abgeschlossen. Wenngleich dem einen oder der anderen mitunter doch nochmal die Galle hochkommt, wenn sie daran denken, dass „in den 50-er Jahren die Bundesrepublik Deutschland den alten Besitzern die Grundstücke abgekauft hat – zu gedrückten Preisen“.
Sie haben, vor Jahren schon, einen „Traditionsverein Wollseifen“ gegründet. Der baute die – natürlich ebenfalls zerschossene – Kirche und die alte Volksschule mit ihren zwei Klassenzimmern wieder auf. In dieser geben grossflächige Texttafeln und zahlreiche Fotos Auskunft darüber, wie hart das Leben einstmals war für die Menschen hier auf der Höhe der Eifel. Und einmal im Jahr, am St.-Rochus-Tag, dem 16. August, wird in der Kirche, die einst diesem Heiligen aus dem französischen Montpellier geweiht war, wieder die Messe gesungen. Und danach draussen kräftig gefeiert.