Eigentlich müsste es Krankheitswesen heissen. Denn unser Gesundheitssystem scheint unheilbar krank zu sein.
Am 17. März 2019 schrieb ich an dieser Stelle: «Der Patient (das Gesundheitswesen) gehört auf die Intensivstation – es gäbe Hoffnung auf Heilung. Wie er gerettet werden könnte, ist bekannt. Doch die Verantwortlichen sind sich nicht einig.» Mehr als drei Jahre später ist der letzte Hoffnungsschimmer verblasst. Bundesrat Alain Berset sagt im Mai 2022 in der NZZ: «Bis das System irgendwann kollabiert.»
Jeder gegen jeden
«Das Gesundheitswesen ist ein Perpetuum mobile der Selbstbedienung, ein Paradies für Geldgierige», rief ein genervter Gerhard Pfister, Präsident der Mitte-Partei, Anfang Juni 2022 in den Nationalratssaal. «Das angeblich beste Gesundheitswesen der Welt ist krank und diejenigen, die an ihm herumdoktern, verdienen alle hervorragend», schob er scharfzüngig nach (Neue Zürcher Zeitung).
Ungewiss ist, wie hervorragend die Damen und Herren National- und Ständeräte selbst verdienen, denn die erste Gruppe jener, die am System «herumdoktern», sind natürlich unsere Politikerinnen und Politiker. Schliesslich sind sie es, die bisher alle Sparvorhaben, die diesen Namen verdienen, bachab geschickt haben. Hinter erhobener Hand: Dutzende von ihnen sind gleichzeitig Lobbyisten für ihre Auftraggeber draussen im Land.
Die weiteren Interessengruppen sind Ärzte, Apotheken, Spitäler, Krankenkassen, Pharmaindustrie und alle Leistungsbezüger, also wir (Sie und ich), die wir unsere Gesundheit in hohem Masse fremdfinanzieren lassen. Doch nicht genug: Das Bild ist erst fertiggemalt, wenn wir bei allen zitierten Gruppen deren Heerscharen von Experten und Beratern miteinrechnen.
Wenn wir so wollen, gehören indirekt natürlich auch die Lebensmittelindustrie und der Detailhandel dazu. Denn diese werden nicht müde, uns mit cleverer Werbung Süsses, Junkfood und kalorienhaltige «Gesundheitsmüesli» aufzudrängen. Bekanntlich ist Zucker einer der grössten Kostenverursacher im Gesundheitswesen …
Es lebt sich gut mit diesem System
Um die erdrückende Last der Gesundheitskosten zu mindern, müssten ja wohl die jährlichen Kostensteigerungen in den Griff gekriegt werden. Diese Binsenwahrheit stand 2016 in den Medien – vor sechs Jahren. Auch wer weiter zurück sucht – immer die gleiche Botschaft.
Der neueste Anlauf aus der Politik: Anfang Juni 2022 wurde im Parlament die Einführung einer Kostenbremse im Gesundheitswesen diskutiert. Denn die Ausgaben in der Grundversicherung sind in letzter Zeit jährlich um 2,5 Prozent gestiegen, im Vergleich dazu die Löhne um 0,7 und die Wirtschaft um 0,2 Prozent.
Doch der Kern des Problems besteht weiter: Unser System ist auf Maximalversorgung ausgerichtet. Seien wir ehrlich – wir sind daran beteiligt, dass eher zu viel als zu wenig therapiert wird. «Man» müsste also jene Behandlungen und Untersuchungen unterbinden, die schlicht unnötig sind. Wer ist «man»? Wohl jene Spezialistinnen und Spezialisten, die das heute schon verordnen. Sackgasse.
Dem Bundesrat schwebt eine Art Einführung von Kostenzielen vor. Diese Zielgrössen – würden sie überschritten – müssten die Anbieter erklären. Es ist jedoch mehr als zweifelhaft, was dies letztlich bewirken würde. Denn: Solche Kostenziele werden von der Branche vehement bekämpft. Da wären wir wieder bei den oben erwähnten Interessengruppen. Sie sind sich tatsächlich einig in dieser Ablehnungsfront – denn es lebt sich zu gut im gegenwärtigen System.
So geht das nicht!
Ein Müsterchen aus dem Verwirrspiel im Bundeshaus soll den Einblick ins Sitzungszimmer etwas erhellen. Da sitzen also wieder einmal am langen Tisch: die 25 Mitglieder der Gesundheitskommission, ihnen gegenüber die vereinigten Lobbyisten (etwa Ärzte, Spitäler, Industrie, Krankenkassen) der Branche. Diskussionsthema ist ein neuer ambulanter Tarif, den der Bund einführen möchte – immerhin geht es um mehr als 12 Milliarden Franken jährlich in der Grundversicherung.
Es herrscht dicke Luft. Grund: Die beiden Verbände der Krankenkassen sind sich nicht einig. Schon dass es zwei Verbände gibt – Santésuisse und Curafutura –, ist ein Unsinn und selbst ein Kostentreiber. Politikerinnen und Politiker sind genervt, sie finden es zu Recht eine Zumutung, wenn sich eine Lobbygruppe aufspaltet und unterschiedlicher Meinung ist. Natürlich kommt man in der Sache nicht weiter. So geht das nicht!
Digitalisierung und Patientendossier
Dass das Bundesamt für Gesundheit (BAG) noch mittels Fax arbeitete, sorgte zu Beginn der Coronakrise für Verblüffung, Kopfschütteln, Heiterkeit oder Entsetzen. Die Diskussionen drehen sich um die vernachlässigte Digitalisierung dieser Abteilung und das seit 2017 diskutierte unverwirklichte elektronische Patientendossier (EPD).
Wenn also Politikerinnen und Politiker Krankenkassen, Pharmaproduzenten oder Ärzte kritisieren, so geht das auch umgekehrt. Im Frühling 2022, anlässlich des «Tages-Anzeiger»-Meetings, drehte ein Gastredner aus der Pharmabranche gewaltig auf und kritisierte Bundesrat und Verwaltung: «Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens liegt die Schweiz hoffnungslos zurück» (Tages-Anzeiger). Roche-Chef Severin Schwan persönlich forderte und fesselte das Publikum. Einmal mehr wies er darauf hin, dass die Pharmaforschung dringend Zugang zu anonymisierten Patientendaten brauche.
Schwan erinnerte daran, dass auch das elektronische Patientendossier an Ort drehe. «Man ist hier genau so weit wie vor 20 Jahren», klagte er. Aufhorchen liess schliesslich Schwans Forderung, diesbezüglich die doppelte Freiwilligkeit abzuschaffen. Freiwilligkeit abschaffen – schon hören wir den Aufschrei jener Kreise, die noch immer davon träumen, der Markt könne jedes Problem lösen.
Hebelt der Staat den Wettbewerb aus?
Die gleichen Kreise verweisen auf die Tendenz, dass der Staat im Gesundheitswesen die Regulierungsschraube ständig anziehen würde. Gemeint ist zum Beispiel die Spitalliste, die in der Zuständigkeit der Kantone liegt und eine ausreichende Versorgung garantieren sollte. Bekanntlich verursachen die Spitäler den grössten Kostenblock im Gesundheitswesen. 80 Prozent der Spitäler, die öffentlich sind oder über eine kantonale Aktienmehrheit verfügen, figurieren auf der Spitalliste, im Gegensatz zu privaten Spitälern, «obwohl bekannt ist, dass gerade Erstere mit ineffizienten Abläufen, überhöhten Preisen und einem Mangel an Innovation» auffallen (Neue Zürcher Zeitung).
Gegen diesen Missstand wird vorgeschlagen, dass die Kantone nicht Betreiber und Aufsicht gleichzeitig sein dürften, ja, dass zukünftig überhaupt weniger kantonal gedacht und gehandelt werden sollte. Weniger kantonal denken – da erinnern wir uns lebhaft an die Situation während der Coronapandemie: Das Kompetenzgerangel zwischen Bund und Kantonen liess manchenorts Bedenken aufkommen, ob unser System des Herumschiebens von Zuständigkeiten zwischen Bund und Kantonen im 21. Jahrhundert noch zeitgemäss sei.
Reformresistent
Die Mängel unseres Gesundheitssystems sind längst bekannt, teilweise seit Jahrzehnten. Jeder politische Reformversuch wird von den betroffenen Lobbyvertretern sogleich vehement bekämpft, zum Teil sitzen Letztere selbst im National- oder Ständerat. Die Folge: Die Krankenkassenprämien steigen und steigen, weit schneller als die durchschnittlichen Teuerungsraten.
Vor 13 Jahren schrieb Urs P. Gasche im INFOsperber: «Statt die Öffentlichkeit für all dies zu sensibilisieren und Remedur vorzuschlagen, sorgen Spitäler, Ärzteorganisationen, Apotheker und Pharmakonzerne mit viel Lobby-Arbeit dafür, dass sie ja keinen Anteil an den 35 Milliarden Franken verlieren, die es mit den Leistungen der Grundversicherung jedes Jahr zu verdienen gibt, Tendenz steigend.» Daran hat sich bis heute nichts geändert.
2020 beliefen sich die Kosten des Gesundheitswesens auf 83 Milliarden Franken. Warum steigen Leistungen, Kosten und Krankenkassenprämien unaufhörlich? Unser System garantiert allen, die in bescheidenen finanziellen Verhältnissen leben, eine Prämienverbilligung. Wer nicht bezahlen kann, wird betrieben. Die Ausstände bei den Krankenkassen sind innerhalb von zehn Jahren von 170 auf 410 Millionen Franken gestiegen. Letztlich kommt für diese Verbilligungen und Abschreibungen von Forderungen der Staat auf. Der Staat, das sind die Steuerzahlenden, also Sie und ich.
Und noch etwas: Innert 40 Jahren hat sich das Verhältnis Arzt pro Einwohner von 406 auf 222 verändert. Thema Anspruchsmentalität der Bevölkerung. Längst wissen wir auch, dass wir zu viele Akutspitäler im Land haben. Und natürlich: Wir bezahlen für Medikamente bis zu 180 Prozent gegenüber den relevanten Preisen im benachbarten Ausland.
Fazit: Unser Gesundheitswesen ist nicht nur reformresistent, es ist ein Fass ohne Boden.