Die spannendste Frage stellte die Journalistin am Schluss des Gesprächs: «Wovor muss Putin Angst haben?» Gleb Pawlowski, ein langjähriger Kreml-Berater, der sich 2011 mit Putin zerstritten hat, gibt in einem Interview mit der regierungskritischen Wochenzeitung «Novaya Gazeta» (24.Oktober 2012) ungewöhnliche Innenansichten.
Vor dem Druck der Strasse, wo im letzten Jahr Hunderttausende ein «Russland ohne Putin» gefordert haben, brauche sich der neue alte Kreml-Chef nicht zu fürchten. Hüten müsse sich Putin jedoch vor seiner nächsten Umgebung. Pawloswki spricht von einem möglichen Komplott in Putins eigenem «Kollektiv». Diese «Premium Class», zu der nur wenige tausend Leute zählten, sei eine von der Realität abgeschottete eigene Welt. Pawlowski: «In Wirklichkeit sind sie die einzigen wirklichen Bürger in diesem Staat. Sie sind bevollmächtigte Besitzer mit geschützten Eigentumsrechten… und jeden Freitag fliegen sie in ihre Schweizer Chalets.»
Garant des Systems – wie lange noch ?
In ihrer exklusiven Welt gefangen, seien Putin und seine Getreuen aufeinander angewiesen. Für die «Premium Class» sei Putin die Garantie, dass sie die dank ihren Machtpositionen illegal angehäuften Reichtümer behalten und auch ihren Kindern übertragen könne. Putin seinerseits sei überzeugt, nur er könne als Schiedsrichter und Moderator das Überleben des Systems garantieren.
Im «Kollektiv», so beobachtet Pawlowski, tauchten nun aber Fragen auf. Wird Putin seine sechs Jahre als Präsident durchstehen? Wann braucht es einen neuen Chef, der das Fortbestehen des Systems sichern kann? Natürlich wisse Putin um dieses Unbehagen; er tue alles, um keine Schwächen zu zeigen.
Wie Putin an die Macht kam…
Für Putin steht aber viel mehr auf dem Spiel. Pawlowski erinnert an das kritische Jahr 1999, als im postsowjetischen Russland die erste Machtablösung stattfand. Der Jelzin-Clan hatte den damals noch unbekannten Ex-KGB-Agenten Putin zum Kronprinzen auserkoren. Der zweite Tschetschenienkrieg bildete die mörderische Kulisse, auf der sich der politische Nobody aus St. Petersburg als Patriot und Held profilieren konnte. Mysteriöse Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau, für die sofort tschetschenische Terroristen verantwortlich gemacht worden waren, dienten dem Kreml als Rechtfertigung für einen Rachefeldzug gegen die abtrünnige Kaukasusrepublik. Dass für den Anschlag in Moskau mit Hunderten von Todesopfern nicht tschetschenischer Terror, sondern der russische Geheimdienst verantwortlich ist - für diese These sprechen heute immer mehr Indizien. (vgl. dazu: John B. Dunlop. The Moscow Bombings of September 1999. Stuttgart 2012). Moskaus Bombenterror und der Krieg in Tschetschenien bildeten den spektakulären Auftakt von Putins Herrschaft.
Seine Zuverlässigkeit und Loyalität gegenüber dem Jelzin-Clan hatte Putin auch bewiesen, als er noch Chef des Geheimdienstes FSB war. In dieser Position sorgte er dafür, dass der russische Generalstaatsanwalt Juri Skuratow entlassen wurde. Skuratow hatte brisante Untersuchungen eingeleitet, nachdem verdächtige Zahlungen auf Schweizer Bankkonten der Familie Jelzin aufgetaucht waren, die von der Tessiner Firma Mabetex stammten, die den lukrativen Auftrag für die Renovation des Kremls erhalten hatte.
… und weiter an der Macht bleiben will
Die dramatischen Hintergründe des Machtwechsels im Moskau von 1999, so glaubt Pawlowski, seien für Putin bis heute die «wichtigste politische Erfahrung», die ihm auch als «Modell» dienen könnte. Was er konkret damit meint, lässt der Ex-Kremlberater offen. Meint das «Modell» einen neuen «Terroranschlag» oder ein anderes dramatisches Ereignis, das Putin die Gelegenheit geben könnte, erneut als unersetzlicher Retter des Vaterlandes aufzutreten?
Über ein «Modell» für einen möglichen Machtwechsel im Kreml haben auch liberale Reformpolitiker offen nachgedacht. Sie erinnern, dass Putin nach seiner Machtübernahme im Jahr 2000 im ersten von ihm unterzeichneten Dekret Jelzin und seiner Familie Immunität auf Lebenszeit garantierte. Ähnliche Sicherheiten, so glauben diese Stimmen, müssten auch Putin und sein «Kollektiv» erhalten. Denn was Putin und seine Leute seit 2000 zusammengerafft haben, übertrifft die Klauereien des Jelzin-Clans um ein Vielfaches.
«Schweizer Chalets» – eine Metapher für die korrupte Macht
Pawlowskis «Schweizer Chalets» haben konkrete Namen. Zum Beispiel die Villa in Cologny bei Genf, die Putins Freund Gennadi Timtschenko 2002 für achtzehn Millionen Franken erworben hat. Timtschenko ist der Mehrheitsbesitzer von Gunvor mit Firmensitz in Genf und Zypern. Timtschenkos kometenhafter Aufstieg vom lokalen Unternehmer zum weltweit viertgrössten Ölhändler (Umsatz sechzig Milliarden Dollar) verläuft bemerkenswert parallel zu jenem seines Mentors im Kreml. Das Steuerdomizil von Gunvor befindet sich seit 2011 in Sarnen (Obwalden). In Obwalden profitieren auch der weltgrösste Nickelproduzent, Norilsk Nickel, sowie zahlreiche andere russische Briefkastenfirmen und Briefkastenstiftungen von den rekordtiefen Steuern in diesem Kanton (Ein guter Draht nach Russland. Tages Anzeiger, 12. Oktober 2012).
«Schweizer Chalets» sind eine Metapher für die korrupte russische Machtelite, die ihre Vermögen im Westen in Sicherheit gebracht hat und dort auch ihre Kinder in Privatschulen ausbilden lässt. Diese Absetzbewegung der «Premium Class» ins Ausland wird sogar von kremltreuen Politikern mit Befremden beobachtet. Man müsse die «Machtelite nationalisieren». So begründete kürzlich ein Abgeordneter von «Einheit Russland» einen Gesetzesvorstoss im Unterhaus, mit dem er hochgestellten Bürokraten den Immobilienbesitz im Ausland verbieten wollte. Der Sprecher Putins blockte sofort ab. Angesichts der hohen Immobilienpreise in Moskau, so argumentierte Dmitri Peskow, könne man doch niemanden verbieten, in Rumänien eine billige Wohnung zu kaufen.
Antiwestliche Aussenpolitik mit innenpolitischen Zwecken
Widerstandslos und im Eiltempo hat das russische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das private Organisationen, die von westlichen Geldern unterstützt werden, verpflichtet, sich als «ausländische Agenten» registrieren zu lassen. Die amerikanische Auslandshilfeorganisation USAID, die viele russische Menschenrechtsorganisationen finanziert, wurde aus dem Land geworfen.
Die Aussenpolitik unter Putin ist wiederum scharf antiwestlich ausgerichtet. Dieses Sperrfeuer dient aber auch internem Gebrauch. Die russische Öffentlichkeit soll das Land als eine vom Westen «belagerte Festung» empfinden. Putin hat die Aussenpolitik als Mittel zur Zähmung der russischen Gesellschaft erfolgreich eingesetzt.
Doppelte Moral des Westens
Die Widersprüche sind offensichtlich. Putins Russland entfernt sich politisch vom Westen. Die wirtschaftliche Verflechtung Russlands mit dem Westen jedoch nimmt zu. Putin kann sich deshalb einen nüchtern-zynischen Blick leisten: Ihr seid geschwächt durch die Euro- und Schuldenkrise. Der Atom-Ausstieg fesselt Europa noch enger an die russischen Gas-Pipelines. Ihr echauffiert Euch über die Pussy-Riot-Frauen im Gefängnis oder die Behandlung von russischen Oppositionellen. Gleichzeitig hofiert ihr Diktatoren in Turkmenistan, Kasachstan oder Usbekistan. Im «Hinterhof Russlands» sind für den Westen geostrategische und wirtschaftliche Interessen wichtiger als Demokratie und Menschenrechte. Für Moskau demonstriert hier der Westen seine doppelte Moral.
Wer bekehrt wen?
Das Dilemma des Westens formuliert der frühere Vorstandsvorsitzende des heute wieder verstaatlichten Ölkonzerns, Michail Chodorkowski: «Mein Land exportiert nicht nur Rohstoffe, sondern auch Korruption. Die westlichen Banken haben sich in Geldwaschmaschinen für die russische Führungsklasse verwandelt.» Aus dem Gefängnis in Sibirien warnt Russlands ehemals reichster Mann den Westen: «Eine seltsame Situation ist entstanden. Die westliche Elite versucht, Russlands politische Klasse zur liberalen Demokratie zu bekehren, während dieselbe Klasse ebendiese Prinzipien zur Fassade macht. Diese Entwicklung könnte zu einer realen Gefahr für die westliche Zivilisation werden.» Chordorkowski beobachtet, wie das System Putin und der Westen zu einem problematischen Joint Venture zusammenwachsen und befürchtet, dass in diesem Prozess das korrupt-kriminelle Hybrid aus Politik und Wirtschaft in Russland auch die Strukturen im Westen, vor allem in Europa, infizieren könnte.
Vor dreissig Jahren zweifelte im Westen kaum jemand daran: In Russland werden eine Demokratie und Marktwirtschaft nach westlichem Modell entstehen. Diese Hoffnung erwies sich als naiv. Dann hiess die Devise: Helfen wir Russland seine Wirtschaft modernisieren, das führt zur politischen Modernisierung. Aber auch diese Politik ist gescheitert. Vor allem in Deutschland, wo die «Politik eines Wandels durch Annäherung» lange hoch im Kurs stand, stellt man ernüchtert fest, der Westen habe zu lange immer nur die Spielregeln Moskaus akzeptiert (Christian Neef. Spiegel online, 17. November 2012).
Realistische Russland-Strategie gesucht
Für den Westen ist es Zeit, in seinem Verhältnis zu Russland einen neuen Ansatz zu finden. Sicher wäre es kein schlechter Anfang, die Lage so zu beschreiben, wie sie ist. Dafür wären aber bessere Kenntnisse und ein differenzierteres Bild der Lage in Russland notwendig. Fehlendes Interesse und eine gewisse Russlandmüdigkeit haben zu einem Abbau an Russland-Expertise und auch der Berichterstattung in den Medien geführt.
Der Westen muss den Dialog mit der russischen Gesellschaft und den Eliten suchen – den echten Eliten und nicht mit der «Premium Class». Bei seiner Kritik an Putins autoritärem Kurs sollte sich der Westen auch bewusst sein, dass er kein unbeteiligter Zuschauer ist und dass zwanzig Jahre nach dem Ende des sogenannten real existierenden Sozialismus auch der Kapitalismus angeschlagen ist.
Roman Berger war 1991 - 2001 Moskau-Korrespondent des «Tages Anzeigers».