Anbieter und Bezüger im schweizerischen Gesundheitswesen sind sich einig: Der permanente Kostenanstieg muss gestoppt werden. Wie und wo man sparen könnte, auch da besteht Klarheit: überall, jedoch nur bei den andern. Damit endet die Einigkeit, die Scheinheiligkeit. Das System ist unheilbar krank.
Unaufhaltsam steigende Kosten
Wir, die Kunden oder Patienten, beklagen uns über ewig steigende Prämien- und Krankheitskosten. Die Krankenkassen beklagen sich über angesagte Rationierungsmassnahmen. Die Ärzte beklagen sich über Tarifkürzungen im Tarmed. Die Spitäler beklagen sich über Fallpauschalen. Politische Parteien beklagen sich, (weil sie auf Stimmenfang für die nächsten Wahlen sind), über ungebremstes Prämienwachstum. Die Kantone beklagen sich über Spital-Transparenz-Forderungen seitens des Bundes. Bundesrat Berset beklagt sich über die renitenten Interessengruppen. Diese Interessengruppen beklagen sich über drohende Globalbudgets. Die Pharmafirmen beklagen sich über staatliche Preisdiktate.
Alle beklagen sich. Je behaglicher sie sich eingerichtet haben in der seit Jahrzehnten andauernden Endlosdiskussion um steigende Gesundheitskosten, desto lauter jammern und fordern sie. Doch die andern haben kein Musikgehör.
Erleben wir da etwa ein Musterbeispiel der Reformunfähigkeit in einer Direktdemokratie, bei der alle Beteiligten – vertreten durch ihre Lobbys – mitkritisieren und mitfordern können? Das System ist krank.
Die Ausgaben für unser Gesundheitswesen liegen mittlerweile bei 77,8 Milliarden im Jahr. Innert zwanzig Jahren stiegen sie um hundert Prozent. Geschätzte Teuerungsrate: jährlich weiterhin mindestens vier Prozent. Innert zehn Jahren ist der durch die allgemeine Krankenversicherung bezahlte Anteil dieser Kosten von 27 auf 37 Prozent gestiegen, während gleichzeitig die private Finanzierung von 35 auf 30 Prozent zurückging. Dazu sind die staatlichen Leistungen von 14 auf 18 Prozentanteile gestiegen.
Diverse Studien beziffern übereinstimmend, dass rund zehn Prozent dieser enormen Kosten als „Verschwendungsposten“ taxiert werden, also rund 7 Milliarden Franken jährlich.
Unheilige Allianz der Kostentreiber
Kostentreiber sind zum einen wir, die Kunden. Wir wollen für uns nur das Beste, lies: das Teuerste. Schliesslich bezahlen wir die hohen Prämien, da wollen wir eine Gegenleistung dafür. Dann wollen wir noch eine Zweit- oder Drittmeinung, man weiss ja nie.
Kostentreiber sind ferner die Krankenkassen, deren oberste Chefs jährlich stattliche Vergütungen einstecken (die Chefs der CCS 760’000, Sanitas 663’000, Helsana 659’000, Swica 592’000 im Jahr, um nur die vier Spitzenreiter zu nennen) mit der Begründung, dies sei „branchenüblich“. Kostentreibend wirkt ferner die millionenteure Werbung der Krankenkassen. Die Rechtfertigung hiefür: Was sonst, wenn nicht der Wettbewerb unter den Versicherern, kann die Kosten- und Prämiensteigerung einigermassen im Griff haben?
Kostentreiber sind sodann diejenigen Ärzte, die mit Zusatzleistungen und Scheinbehandlungen ihr Einkommen optimieren und Sturm laufen gegen behördliche Eingriffe. Mit dazu gehören die Spitäler, deren Chefärzte ihre Boni auch weiterhin selbst festlegen können und die mit fragwürdigen Operationen für Umsatz besorgt sind.
Kostentreiber sind weiter politische Parteien, wie kürzlich die CVP, die eine Initiative zur automatischen Kontrolle des Prämienwachstums starten. Nur – wer soll das umsetzen? Oder die Kantone, die eifersüchtig ihre regionalen Spitäler verteidigen, auch wenn es diese nachweisbar gar nicht mehr alle braucht. Oder die 26 kantonalen Gesundheitsdirektoren, die sich für ihr kantonales Wähler-Publikum und überholte Strukturpolitik stark machen und als Betreiber von kantonalen Kliniken Sparansätze hintertreiben.
Kostentreiber sind schliesslich die Interessengruppen, die Vertreter der Kunden oder Patienten, der Ärzte, der Spitäler, der Krankenversicherungen, deren Lobbying in Bern in abwechselnder Zusammensetzung die Mehrheiten für Partikularinteressen besorgen. Und natürlich die Pharmaindustrie, die laufend alte durch sehr teure neue Medikamente ersetzt. Da könnte einem Bundesrat Berset mit seinen 38 Programmpunkten, mit denen er den Fehlanreizen im Gesundheitssystem beikommen will, tatsächlich leidtun.
Lauter Fragezeichen
Warum wollen wir, die Kunden, nichts wissen von Managed-Care-Modellen, die wir 2012 an der Urne abgelehnt haben? Warum verteidigen die Krankenkassen ihre fantasielose TV-Werbung – finanziert durch uns, die Kunden – und behaupten erst noch keck, damit einen Beitrag zu leisten, um die Gesundheitskosten „einigermassen im Griff zu haben“? Warum liessen die Ärzte 2016 die Behandlungskosten erneut weit überdurchschnittlich ansteigen? Und warum rechnen Spezialärzte pro Patient doppelt so viel ab wie Hausärzte?
Warum setzen die Spitäler derart auf Wachstum, zum Beispiel mit zunehmenden Eingriffen für Knie- oder Hüftoperationen, oder warum werden bei Herzpatienten Stents eingesetzt – ein lukrativer Eingriff –, wenn doch sogar der Direktor des Instituts für Hausarztmedizin an der Universität Zürich vermutet, „wann immer es für Herzspezialisten die Möglichkeit gibt, einen Stent einzusetzen, wird das getan“ (Sonntagszeitung).
Warum starten die politischen Parteien Volksinitiativen, zum Beispiel die SP mit ihrer Forderung auf Prämienlastbegrenzung auf zehn Prozent des Haushalteinkommens? Warum verkrallen sich einige der 26 kantonalen Gesundheitsdirektoren in einen unzeitgemässen Kantönligeist? Und schliesslich die rührigen Interessengruppen, warum wohl gibt es sie überhaupt?
Ein unheilbar krankes System
Die Antworten liegen auf der Hand. Beginnen wir wiederum bei uns selbst, den Kunden. Wer die steigende Prämienlast nicht mehr tragen kann, wendet sich an den Staat. Dieser finanziert sie via individuelle Prämienverbilligungen (IPV), Zusatz-, resp. Sozialhilfeleistungen. 2015 bezahlte der Staat allein für IPV 4,1 Milliarden Franken an 2,2 Millionen Personen. De facto findet in diesem Fall oft gar keine Zusatzbelastung für den Einzelnen statt (natürlich steigen dadurch die Steuerlasten). Warum also sich sorgen?
Für die Krankenkassen bedeuten steigende Prämien Umsatzwachstum. Zudem kann bei einer staatlich verordneten obligatorischen Krankenkasse mit Fixvergütungen für Einzelleistungen keine Rede sein von „Konkurrenz steigert die Effizienz“. Und jetzt verstehen wir auch, warum noch nicht alle Versicherungen Managed-Care-Modelle anbieten, die nachweislich kostensenkend wirken.
Die Ärzte laufen schon mal prophylaktisch Sturm gegen das drohende Globalbudget im Gesundheitswesen, das eine Expertengruppe vorschlägt. Der Vergleich mit ausländischen billigeren Modellen wird abgelehnt. Begründet wird das teilweise mit dem aussergewöhnlich stark dezentralisierten schweizerischen Gesundheitssystem und den hohen Ansprüchen des Publikums.
Nur zu offensichtlich dient der Protest der Spitäler gegen die Verschwendung im Schweizer Gesundheitswesen als Versuch zur Verteidigung von behaglichen Pfründen. Man geht deshalb rechtzeitig gegen drohende Spitalsubventions-Kürzungen von jährlich zwei Milliarden Franken in Stellung.
Wie immer bei hochbrisanten gesellschaftlichen Themen profilieren sich die politischen Parteien. Ihre Vorstösse sind jedoch so einfach zu durchschauen, dass es manchmal schon fast peinlich ist. Sie haben ihre eigenen Parteiziele im Auge (was im Übrigen ihr Recht ist), doch verlieren sie dadurch das Ganze aus dem Fokus.
Zusammenfassend: Auch in den nächsten Jahren werden sich alle Player im Gesundheitssystem mit Einsparungsvorschlägen überbieten. Das wird nichts ändern am heutigen Zustand. Zuerst müssten die falschen Anreize behoben werden. Das System ist unheilbar krank.