In der Geschichte des Bundesstaates gab es zehn Abstimmungen, in denen das Volksmehr durch das Ständemehr desavouiert wurde. Das sind wenige Fälle. Aber fünf davon fallen in die letzten 37 Jahre. Und alle zeigen sie ein Muster, das sich in den nächsten Jahren häufen könnte: Die Französischsprachigen überstimmen mit hohen Ja-Anteilen die Deutschschweizer Nein-Mehrheit und werden durch das Ständemehr ausgebremst.
Am 27. Februar 1983 verhelfen gegen 60 Prozent der Romands dem Energieartikel zu einer 50,9 Prozent-Mehrheit. Dieser scheitert aber am Ständemehr. Am 12. Juni 1994 wiederholt sich dasselbe gleich in zwei Abstimmungen. Dank den 60 Prozent französischsprachigen Ja schafft der Kulturartikel eine Mehrheit von 51 Prozent. Dank den 65 Prozent französischsprachigen Ja kommt die erleichterte Einbürgerung junger Ausländer auf 52,8%. Im ersten Fall lautet das Ständemehr 11:12, im zweiten sogar 10:13.
Am 3. März 2013 sorgen die Romands mit einem Ja-Anteil von gegen 70 Prozent für eine 54,3%-Mehrheit des frauenfreundlichen Familienartikels, der aber am konservativen Ständemehr mit 10:13 scheitert. Und am letzten Sonntag verhelfen gut 60 Prozent der Sprachminderheiten der Konzernverantwortungsinitiative zu einem Ja-Anteil von 50.7 Prozent. Das Ständemehr bremst die Romands aus – auch die kleinen Kantone Jura und Neuenburg (samt Baselstadt).
1874: Referendum ohne Ständemehr
Es ist also höchste Zeit, das Ständemehr zu hinterfragen. Zu einer seriösen Diskussion gehört die Kenntnis der einzigen ausführlichen Grundsatzdiskussion in der Geschichte des Bundesstaates – jener zwischen 1870 und 1874. Sie fand statt im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung. Diese führte das Referendumsrecht ein und verzichtete dabei bewusst auf das Ständemehr.
In der ersten 1872 an der Urne gescheiterten Vorlage hatte sie zusätzlich eine Gesetzes-Initiative beschlossen, in der ebenfalls auf das Ständemehr verzichtet wurde. Weil im zweiten Umgang nur noch die Demokraten, Deutschschweizer und Neuenburger Radikale für die Initiative stimmten, musste das Männervolk bis 1891 auf dieses direktdemokratische Recht warten.
Wer nun meint, in der Diskussion um das Ständemehr gehe es bloss um die Frage: für die Verfassung schon, für Gesetze aber nicht, muss sich eines Besseren belehren lassen. Konservative wie Freisinnige, bei denen damals Demokraten und Radikale den Ton angeben und die Escher-Liberalen marginalisiert sind, argumentieren sehr grundsätzlich für oder gegen das Ständemehr.
So sagt der Luzerner Konservative Philipp Anton von Segesser, die „Demokratie“ brauche ein „Gegengewicht“, nämlich das „föderative Prinzip“. Dieses sei das „letzte Mittel gegen die Willkür der Majoritäten“. Auch der Obwaldner Parteikollege Theodor Wirz lehnt ein Gesetzes-Referendum ohne den „Dualismus“ von Volk und Kantonen ab. Ein „Nationalvotum“ ohne „Ständevotum“ würde „den Boden des Bundesstaates verrücken“.
Der „moderne Staat“ und die „Kraft des Einzelnen“
Ihr freisinniger Hauptgegner, der Solothurner Katholik Simon Kaiser, vertritt im Sinne der Aufklärung den Grundsatz: „Das konkrete Element liegt in den Bürgern und für diese muss Recht geschaffen werden.“ Als Befürworter der individuellen Grundlage eines liberalen Gemeinwesens lehnt der Vordenker der Totalrevision jeglichen Korporatismus ab: „Die Kantone sind ein Abstraktum.“
Der Winterthurer Demokrat Gottlieb Ziegler fordert ausdrücklich den radikalen Bruch mit dem Ancien Regime: „Es ist aber zu bemerken, dass der moderne Staat auf ganz anderen Grundlagen beruht als der alte Schweizerbund und er sich von den historischen Traditionen desselben gelöst hat. Nicht auf diese können wir abstellen, sondern auf die Kraft, die in jedem einzelnen ruht.“ Die Abschaffung des Ständemehrs ist eine wichtige Forderung im nationalen Revisions-Programm der Zürcher Demokraten.
Der Berner Nationalratspräsident Robert Brunner, der am 27. Februar 1872 den Stichentscheid gegen das Ständemehr fällte, argumentiert: „Das Schweizervolk ist ein Sublimat (Verbindung, jl), das über den Kantonen steht.“ Dabei weist er darauf hin, dass die Kantone über den Ständerat bei allen Fragen mitreden können. Kaiser bleibt dann allerdings mit dem Antrag, das Ständemehr auch bei Verfassungsfragen abzuschaffen, chancenlos.
Bundeskritische Romands
Die Mehrheit der Deutschschweizer Freisinnigen will den Bogen nicht überspannen, weil die Genfer und Waadtländer Radicaux heftige Verfechter des Ständemehrs auch bei Gesetzesfragen sind. Das mag erstaunen, ist doch ihr wichtigster Vorfahre Henry Druey, einer der Verfassungsväter von 1848 und Angehöriger des ersten Bundesrates, ein Gegner des Zweikammersystems gewesen. Auch die Ablehnung der Volksinitiative durch die Waadtländer Freisinnigen kontrastiert mit der Tatsache, dass ihre Vorfahren 1845 als erste dieses Recht eingeführt haben.
Die bundeskritische Haltung der Romands, die die Neuenburger nicht teilen, hat zwei Gründe: Erstens identifizieren sich insbesondere die Waadtländer stark mit ihrer „Patrie“, die sich noch mitten im Aufbau befindet. Und zweitens übertreiben es die Deutschschweizer Freisinnigen mit der Zentralisierung, insbesondere bei der Armee und beim Zivilrecht. Die Romands befürchten eine preussische Militarisierung und hängen stark am napoleonischen Code Civil. Sie bringen deshalb – gemeinsam mit den Konservativen – die erste Verfassungs-Vorlage 1872 zu Fall.
Beim zweiten Umgang wird der Zentralismus abgeschwächt und der Antiklerikalismus verstärkt. Dabei erweist sich der kurz zuvor unfehlbar erklärte Papst mit der provokanten Ernennung eines Bischofs in der Calvinstadt als eigentlicher „deus ex machina“. In einem Abstimmungskampf, der nicht mehr im Zeichen der Zentralisierung, sondern des Kulturkampfes steht, stimmen dann bei einer Beteiligung von 84% fast zwei Drittel der Schweizer Männer für die damals fortschrittlichste Verfassung der Welt. Zu deren Kerngehalten gehört mit dem fakultativen Referendum ein neues Volksrecht, das keinen ständischen Vorbehalt kennt.
Von der alten zur neuen Minderheit
Nachdem die Romandie 1955 bei der Abstimmung über die Volksinitiative „Mieter- und Konsumentenschutz“, die mit 50,2 Prozent angenommen und von 15 der damals 22 Stände abgelehnt wird, dasselbe erlebt hat wie am letzten Sonntag, ist sie bei der Finanzordnung (1970), dem Bildungswesen (1973) und dem Konjunkturartikel (1975) gespalten. Die neue Konstellation – die Romandie sorgt für ein Schweizer Volksmehr, das durch das Kantonsmehr aufgehoben wird – spielt erst seit der Gründung des Kantons Jura. Das ist mehr als ein zeitlicher Zufall.
Erstens hat die Jura-Frage die Französischsprachigen zusammengeschweisst, und zwar über die Konfessionsgrenzen hinaus. Seit den späten 1970er Jahren findet die calvinistisch geprägte Romandie eine Ausweitung um die jurassischen, Freiburger und – etwas zögerlicher – Walliser Katholiken. Gleichzeitig verstärken sich die politischen Besonderheiten der Französischsprachigen, die sich seit den 80er Jahren auch in den Abstimmungen ausdrücken. Während sich die historische Minderheit des politischen Katholizismus auflöst, profiliert sich eine neue Minderheit mit sprachlicher Gemeinsamkeit. Und für diese bedeutet das Ständemehr nicht Schutz, sondern Gefahr.
Möge die anlaufende Debatte über das Ständemehr sowohl der Grundsätzlichkeit der Frage (Autonomie des Individuums versus kantonaler Organizismus) wie auch der neuen Wirklichkeit gerecht werden. Das wird sie nur, wenn sie sich nicht schon zu Beginn in oberflächlich-technokratische Reform-Geplänkel verliert. Und wer – im Unterschied zum Schreibenden – eine Reform einer Abschaffung vorzieht, soll eine Lehre aus dem Jahre 1989 ziehen: Reformen haben nur Chancen, wenn der Status quo den Atem der Abschaffung im Nacken spürt.
Josef Lang ist alt Nationalrat, Historiker. Er veröffentlichte im April „Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart“, Verlag Hier und Jetzt.