Als Anfang November 2011 Nicolas Sarkozy auf dem G-20-Gipfel in Cannes Benjamin Netanjahu einen Lügner nannte, ergänzte ihn Barack Obama mit dem Seufzer, dass er jeden Tag mit ihm auskommen müsse. Angela Merkel wurde die Bemerkung zugeschrieben, dass sie Netanjahu kein Wort glaube. Die internationalen Antipathien gegen Netanjahu entsprechen der eigenen politischen Ratlosigkeit und der programmatischen Auszehrung.
Wird Washington vorgeführt?
Der Schachzug, im Jerusalemer Kongresszentrum die politischen Türen zur jungen Generation zu öffnen, statt das Risiko der Konfrontation in der Knesset einzugehen, spricht deshalb Bände. Dass sich Netanjahu neuerlich zur Zwei-Staaten-Lösung bekannte, während die Leitlinien seiner Regierung jeden Bezug darauf vermeiden und der neue starke Mann Naftali Bennett demonstrativ betont, dass das israelische Volk kein Besatzer im eigenen Land sei, hat zu der Vermutung Anlass gegeben, dass Washington in der Gefahr steht, sich wieder einmal vorführen zu lassen. Denn Netanjahu wird den Siedlungsbau nicht einfrieren und die Erweiterung des E-1-Korridors zwischen Jerusalem und Maale Adumim nicht einstellen.
Nachdem die USA dem engsten Verbündeten die militärische Überlegenheit verschafft haben, plagt sie die Sorge, dass Israel zum Alleingang gegen den Iran ausholt. Da seit dem Irak-Krieg der Prozess der Destabilisierung im Nahen Osten ungebremst anhält, will Washington durch die Aufrüstung Israels das letzte Bollwerk in der Region – neben der Türkei – stärken, statt politische Führungsstärke zu demonstrieren, die den Zusammenhang zwischen der Strategie Netanjahus und den anderen Konfliktfeldern erkennt, in ihrem Schatten die Politik in den besetzten Gebieten voranzutreiben.
Heruntergespielte Asymmetrie
In Ramallah hat sich der Argwohn gegen die USA nicht verflüchtigt. Obamas Zusagen weiterer Finanzleistungen und die Ablehnung der Siedlungspolitik reichten nicht aus, das Misstrauen zu neutralisieren, zumal der Präsident die Autonomiebehörde dringend zu Verhandlungen mit der Regierung in Jerusalem aufforderte und damit die machtpolitische Asymmetrie herunterspielte. Andererseits müssen die Palästinenser begreifen, dass weiteres Warten auf politisch günstigere Umstände ihre nationalen Ansprüche keinen Schritt voranbringt. Das Scheitern der Annäherungen zwischen Ehud Olmert und Machmud Abbas im September 2008 ist nicht vergessen.
Jordaniens König Abdullah II. hat nach den vertraulichen Beratungen mit Netanjahu die Beziehungen zum Nachbarn gelobt, während es ihm nach den Wahlen am 23. Januar trotz der Reformoffensive nicht gelingt, seinen Kandidaten Abdullah Ensour als Ministerpräsidenten zu gewinnen und durchzusetzen, und überdies der Ansturm der syrischen Flüchtlinge die Integrationsfähigkeit des Königreichs weit übersteigt. Die politische Zukunft des Haschemitischen Königreichs ist im regionalen Geflecht die grosse Unbekannte.
Fragen an die europäische Adresse
Nach den Besuchen Obamas stellen sich für die europäischen Regierungen mehrere Fragen:
– Kann es ihnen gefallen, dass sie in der nahöstlichen Öffentlichkeit als politischer Faktor kaum wahrgenommen werden?
– Werden sie die Mahnung Obamas – „Frieden wird zwischen Völkern, nicht nur zwischen Regierungen geschlossen“ – aufnehmen? Wollen sie die Arbeitskontakte zu jenen Kräften in den Zivilgesellschaften ausbauen, die längst das Vertrauen in die Friedensfähigkeit der Regierenden verloren haben? Gilt die Zusage Guido Westerwelles, „den Rückhalt der moderaten Kräfte in der Bevölkerung (zu) stärken“, nur für das vom Bürgerkrieg heimgesuchte Syrien oder auch für jene Teile der Region, die gegen zerstörerische Explosionen nicht gefeit sind?
– Geht es den Europäern um mehr als um das Bemühen, die Parteien an den blanken Verhandlungstisch zu holen und ihnen logistische und sonstige Hilfen zu gewähren? Bleibt der Nahe Osten auch für Europa ein tiefes, schwarzes Loch, wie es der Publizist Gershon Baskin für die amerikanische Politik ausgemacht hat?
Menschenrechte?
Im Programmentwurf für 2013 hat sich die SPD abermals zur Zwei-Staaten-Lösung bekannt und die USA zu einem „neuen Anlauf im Nahost-Friedensprozess“ gedrängt. Bis dahin bleiben die Berichte deutscher und internationaler Freiwilliger aus der Westbank erschütternd. Gegen palästinensische Zivilisten haben israelische Soldaten freie Hand. Die Untersuchung schwerer Menschenrechtsverletzungen und die Verfahren gegen Palästinenser vor israelischen Militärgerichten spotten jedem rechtsstaatlichen Standard.
Wer es in diesen Tagen bei der Kritik an den Raketen aus dem Gazastreifen und am zivilen (wie lange noch?) Widerstand die Absperrungen, die Ausweisungen aus dem einst arabischen Teil Jerusalems und gegen die Enteignung von Böden in der Westbank belässt, bleibt die Antwort auf die Frage schuldig, ob er an einen genetischen Defekt der Palästinenser glaubt, der sich regelmässig als Gewalttat äussern müsse.