Der Geburtenrückgang ist nicht allein ein Phänomen der mehr oder weniger wohlhabenden Staaten des Westens. Vielmehr lässt er sich weltweit beobachten. Zum ersten Mal seit 700 Jahren steht der Weltbevölkerung ab Mitte dieses Jahrhunderts ein Schrumpfungsprozess bevor.
In einem ausführlichen Essay in der Zeitschrift Foreign Affairs trägt Nicholas Eberstadt, der politische Ökonomie am «American Enterprise Institute» in Washington lehrt, die neuesten Entwicklungen in den Geburtenzahlen weltweit zusammen und setzt sie mit der Alterung in den jeweiligen Gesellschaften in Beziehung. Spätestens ab Mitte dieses Jahrhunderts setzt demnach ein signifikanter Schrumpfungsprozess der Weltbevölkerung ein. Seit der Schwarzen Pest im 14. Jahrhundert habe es einen derartigen Rückgang nicht gegeben, so Nicolas Eberstadt.
Das Überraschende an diesen Befunden besteht unter anderem darin, dass sich der Trend zu weniger Geburten in ganz unterschiedlichen Kulturen durchsetzt. Es gibt keinen signifikanten Unterschied zwischen säkularen oder religiös geleiteten Gesellschaften, zwischen Arm und Reich oder den jeweiligen politischen Systemen, seien sie mehr auf die individuelle Freiheit oder mehr auf autoritär geleitete Kollektive ausgerichtet. Japan ist der Tendenz zur Überalterung ebenso ausgesetzt wie die Länder Mitteleuropas, Russland ebenso wie Lateinamerika. Den einzigen grossen Unterschied machen die afrikanischen Länder südlich der Sahara.
Weltweiter Mentalitätswandel
Dadurch entstehen Probleme, die in ihrer Dramatik noch nicht verstanden worden sind. Denn die Annahme, dass man den Mangel an Nachwuchs im eigenen Land durch Zuwanderung kompensieren kann, wird sich nicht als tragfähig erweisen. Weil es weltweit an Nachwuchs fehlt, wird er global zur allzu knappen Ressource. Der südliche Teil Afrikas als verbliebener Teil mit Geburtenüberschuss wird nicht helfen, denn dort ist der kulturelle Abstand mit den entsprechenden Ausbildungsdefiziten zu gross. Das gilt übrigens auch für Russland, wo die Ausbildungsdefizite den Mangel an Nachwuchs zusätzlich verschärfen. Die einzige Ausnahme bilden die USA, deren Geburtendefizit nicht ganz so dramatisch ausfällt wie in den meisten Regionen. Dazu kommt die zwar ungewollte, gleichwohl aber stete Zuwanderung aus dem Süden. Daher werden die USA ab Mitte des Jahrhunderts besser aufgestellt sein als der Rest der Welt.
Seit Jahren suchen Bevölkerungswissenschaftler nach Erklärungen für diesen Megatrend, wie der Amerikaner John Naisbitt solche gesellschaftlichen Entwicklungen genannt hat, die geradezu mit Naturgewalt über die Menschheit hereinbrechen und zahlreiche weitere Trends hervorbringen, die in die gleiche Richtung gehen. Das grösste Rätsel besteht darin, wie es zu solchen weltweiten Veränderungen der Mentalitäten kommt. Neu ist dieses Phänomen nicht. So gibt es immer wieder Zeiten weltweiter Kriegsbereitschaft, umgekehrt weltweiter Bereitschaft zur Toleranz. Und in den 1960er und 1970er Jahren sind Impulse der amerikanischen und europäischen Studentenbewegungen mit ihren Antikriegsprotesten um die Welt gegangen.
Eine neue Ära der Geschichte
Nicholas Eberstadt kommt zum Schluss, dass die plausibelste Erklärung für den Geburtenrückgang darin liegt, dass Frauen, wenn sich ihnen eine Wahlmöglichkeit öffnet, ihre Erfüllung nicht mehr in der Familie mit zahlreichem Nachwuchs sehen. Das gilt auch für islamisch geprägte Gesellschaften wie in Iran, der Türkei oder Tunesien, die, wie Eberstadt feststellt, dem Trend zum Geburtenrückgang ebenfalls nicht entgehen. Der zentrale Stellenwert der Familie schwindet. Die Familie aber sei die Keimzelle der Gesellschaft. Sie kann nicht durch staatliche Einrichtungen ersetzt werden, denn diese sind erfahrungsgemäss weitaus kostspieliger und weniger effizient. Dies ist nur ein Aspekt der kommenden Entwicklung. Man kann auch fragen, was es für die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Politik, die Verwaltung und nicht zuletzt das Militär bedeutet, auf immer weniger junge Kräfte zurückgreifen zu können.
Fortschritte in der Produktivität werden manche Probleme abmildern, aber kann man sich wirklich eine Gesellschaft vorstellen, in der das, was bisher im Zusammenspiel der Generationen geleistet wurde, mehr und mehr durch Technik und KI übernommen wird? Und auch, wenn vieles in der medizinischen Betreuung und Pflege der Alten mittels KI und Robotern effizienter bewältigt werden kann, werden den Jungen nicht alle zusätzlichen ökonomischen Lasten erspart werden. Was bedeutet dieses Ungleichgewicht für das gesellschaftliche Klima?
Nicholas Eberstadt leitet seinen Essay mit der Feststellung ein, dass wir dabei sind, «eine neue Ära der Geschichte» zu betreten. Genau genommen hat sie schon begonnen, aber die Umrisse lassen sich erst jetzt aufgrund der neueren Daten genauer erkennen. Und die Frage, wie human im heutigen Verständnis die künftigen Gesellschaften sein werden, lässt sich zwar stellen, aber noch gar nicht beantworten. Fatalerweise liegen dystopische Antworten näher als optimistische. Das galt aber schon für die lange prophezeite und befürchtete Überbevölkerung, die ihren Höhepunkt früher als gedacht überschritten hat. Persönliche Präferenzen, die sich weltweit durchsetzen und damit einen Megatrend bilden, können Prognosen durchkreuzen. Vielleicht gilt das auf lange Sicht auch für die Erwartungen in Bezug auf das Schrumpfen der Weltbevölkerung.