Für manche hört die Musik vor Stravinsky auf. Als ‚unerträglicher Lärm’ und ‚eine Zumutung für die Ohren’ wird von vielen alles bezeichnet, dass von späteren Komponisten geschrieben wurde. Bei Abonnementskonzerten leeren sich die Ränge in der Pause merklich, wenn danach ein modernes Stück gespielt wird. Selbst im beliebten KKL in Luzern gibt es immer noch freie Plätze, wenn Luigi Nono, Olivier Messiaen und Zeitgenossen auf dem Programm. Stehen
Holligers Oper wird zum Publikumserfolg
So soll es auch Heinz Holligers ‚Schneewittchen’ an der Uraufführung in Zürich 1998 ergangen sein. ‚Die Zuschauer drängten sich während der Aufführung gruppenweise aus den Reihen’, berichtet ein Augenzeuge. Heute ist dies anders. Auch die fünfte Aufführung in Basel ist gut besucht und das Publikum ist begeistert.
Liegt es am Zeitgeist, der sich gewandelt hat? Oder am Publikum, das sich inzwischen moderner Musik doch mehr geöffnet hat ? Oder aber an der Aufführung, die das Visuelle in den Vordergrund stellt ? Vermutlich an allem Dreien. Das Basler Publikum hat durch Paul Sacher als Auftraggeber neuer Kompositionen, als Dirigent dieser mit dem Basler Kammerorchester, und später durch die Aktivitäten seiner Stiftung eine intensive Einführung in die moderne, sogar in die avantgardistische Musik bekommen. Der Oboist, Dirigent und Komponist Heinz Holliger gehörte dabei zu den Schützlingen Sachers und die jetzige Aufführung ist eine Coproduktion des Basler Theaters und der Stiftung.
Walsers Labyrinth
Der Oper ‚Schneewittchen’ zugrunde liegt eine 1901 entstandene Erzählung Robert Walsers, die mit den Figuren des bekannten Märchens spielt, in dem diesen - wie verschiedene Kostüme - diverse Verhaltensweisen an- und ausgezogen werden. Heinz Holliger ist von der Musikalität der Walserschen Sprache fasziniert wie auch der Vielschichtigkeit der Erzählung. Holliger: ‚Dieser Dichter ist ein wahres Labyrinth und sein Werk völlig unauslotbar, weder zerred- noch erklärbar.’ Genau dies sei es. Was ihn als Musiker fasziniere.
Er komponierte dazu eine feinsinnig, glasklare Musik, die atmosphärisch sehr dicht und reich an Konnotationen ist. Leider kommen diese kaum zum Tragen, da die visuelle Erfahrung so reich und fordernd ist, dass man – wie bei ‚Babylon’ von Jörg Widmann – die Musik manchmal ganz vergisst. Das ist schade, denn sowohl der Komponist am Pult wie auch die Musiker des Symphonieorchesters Basel leisten Grossartiges.
Wunder und Schrecken der Kindheit
Wie auch der Regisseur und Leiter der bildnerischen Gesamtkomposition Achim Frey, der seine ersten künstlerischen Erfahrungen in den 40ger Jahres des vorigen Jahrhunderts als Puppenspieler und Geschichtenerzähler in Berlin gesammelt hat. Er scheint jetzt genau dort anzuknüpfen; allerdings in viel grösserem Rahmen. Bereits beim Betreten des Zuschauerraums wird der Besucher von lebendigen Märchenfiguren mit riesigen Maskenköpfen umringt. Er wird in diese zauberhafte Welt hineingezogen, die ihn die Wunder, Schrecken und Verwirrungen seiner Kindheit erinnern lassen. Auch da waren die Märchen mit Wundervollem wie Grausamem gespickt. Es gab gute und böse Figuren. Nur dass hier durch die dauernde Wesensverwandlung bald nichts mehr sicher ist.
Die phantastische Welt verzaubert, und verstört. Pop Art und Puppenspieler-Elemente tauchen auf. Hässliches wird schön gezeichnet und umgekehrt. Und Jeff Koons könnte bei manchem Objekt Pate gestanden haben. Achim Frey hat sich zu Holligers bald 75. Geburtstag einiges einfallen lassen.
Vielleicht nicht immer zur Freude der Sänger, die teilweise durch Masken, auf Gerüsten oben oder an Seilen hängend singen mussten. Doch die aufstrebende Starsopranistin Maria Riccarda Wesseling als Königin wie auch Anu Komsi als Schneewittchen erfüllten ihre Aufgabe bravourös.
Blaubarts Narben und Schrammen
Auch die zweite Basler Produktion zu zeitgenössischer Musik, das Ballett ‚Blaubarts Geheimnis,’ ist ein grosser Publikumserfolg. Der Leipziger Stephan Thoss, heute Ballettdirektor am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, choreographierte und gestaltete es bildnerisch und führte es dort am 12.2.2011 erstmals auf. Auch diesem Werk liegt ein Märchen zugrunde, nämlich das des Frauenschlächters Blaubart, der die gemeuchelten Frauen in diversen Kammern seiner Burg birgt. Modern psychoanalytisch umgedeutet, werden die echten Leichen zu symbolischen ‚Leichen im Keller’. Jene, die jeder Mensch beziehungsmässig hat, wenn er bereits gelebt und diverse Liebesbeziehungen durchlebt hat, die alle ihre Spuren in seiner Seele hinterlassen haben. Diese Narben und Schrammen können potentielle ‚Liebeskiller’ sein und so führt in diesem Ballett der ältere Mann ‚Blaubart’ seiner jungen Braut Judith alle diese in einzelnen Kammern verborgenen Hemmnisse vor.
Bis auf eines: Vor dem letzten Geheimnis scheut er zurück. Judith muss es für ihn lüften und auflösen: Der wahre Grund für seine Beziehungsprobleme ist seine dominante und lieblose Mutter. Diese ödipale Verstrickung kann durch die Liebe der jungen und nicht voreingenommenen Frau gelöst werden.
Geschlechterkampf und erste Verliebtheit
Im ersten Teil des Balletts, zur Musik des polnischen Komponisten Henryk Gorecki, werden die Wechselbeziehungen zwischen Mann und Frau ausgelotet; Anziehung und Abstossung gezeigt, sowie der Auswahlprozess mitverfolgt. Das Paar Blaubart und Judith kristallisiert sich heraus und geht dann im zweiten Teil auf eine ‚innere Reise’ seiner Beziehungsgeschichte. Letztere wird zur Musik von Philip Glass getanzt, der vielen als ‚Tschaikowsky der Moderne’ gilt, weil diverse moderne Ballette zu seiner Musik choreographiert wurden. Er komponierte allerdings nur zwei Musiken direkt für Ballett: ‚Dance’ für Lucinda Childs und ‚In The Upper Room’ für Twyla Tharp’.
Die Choreographie konzentriert sich im ersten Teil eher auf die Ensembleleistung, im zweiten auf den Pas de deux. Sie zeichnet sich durch Dramatik, Dynamik, Facettenreichtum und grosse Emotionalität aus. Im ersten Teil wird der ‚Geschlechterkampf’ oft explizit sexuell, auch mit deutlich brutalen Anklängen getanzt. Der Reigen diese Sequenzen wechselt sich mit den lyrischen Szenen erster Verliebtheit und des sich gegenseitigen Erkundens effektvoll ab. Bühnenbild und Kostüme sind dabei bewusst zurückhaltend gehalten um die tänzerischen Impulse nicht zu stören. Nur die graue, bewegungslose Figur auf schräger Fläche erinnert wie die Skulpturen Alberto Giacomettis an die inhärente Einsamkeit des Individuums.
Auch der Tanz im zweiten Teil ist athletisch, fast akrobatisch gehalten. Allerdings erfordern die Teile der inneren Entwicklung der Personen auch hochsensible Passagen. Beidem war das Basler Ensemble mit Javier Rodriguez Cobos(Blaubart), Andrea Tortosa Vidal (Judith) und Debora Maiques Marin (Blaubarts Mutter) gewachsen und tanzte es mit ansteckender Verve.
Ein Ballettabend, der formal begeisterte und thematisch verstörte. Diese choreographische Interpretation des ‚Blaubart’ Märchens trifft jeden und wird wohl lange im Gedächtnis bleiben .
Nächste Aufführungsdaten:‚
Schneewittchen’: 6.11. und 15. April‚
Blaubarts Geheimnis’: 4. 12. Und 14. April