Nach Konsultationen in China und Russland hat sich der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas entschlossen, den Souveränitätsanspruch der Autonomiebehörde über Gaza einzufordern und dafür persönlich mit seiner Minister-Entourage nach Gaza (und dann nach Jerusalem) zu reisen.
Noch vor einem Jahr hatte Abbas den Putschismus der Hamas scharf kritisiert, dann monatelang geschwiegen und sich schliesslich von Moskau auf einen dezidiert antiwestlichen Kurs bringen lassen. Moskau (und Peking) erwarteten eine enge Koalition von Fatah und Hamas, die sich in die PLO integrieren sollte und die im Gegenzug von der Fatah als palästinensische Vertretung in Gaza anerkannt werden sollte. Die iranische Führung verstärkte diesen politischen Schwenk noch dadurch, dass sie die Schirmherrschaft über die Hamas und damit auch über den Gaza-Streifen übernahm und diese damit endgültig in die Achse des Widerstands integrierte und damit auch (aber nicht nur) den strategischen Interessen Moskaus unterwarf. Moskau wurde zum Schatten des Iran, Iran wurde zum Schatten der Hamas, und die bislang machtlose palästinensische Autonomiebehörde sah sich beauftragt, in Gaza wieder Fuss zu fassen.
Autonomisten in Gaza
Arabische Berichte aus Gaza lassen drei Reaktionen der dortigen Bevölkerung erkennen: Ein Teil wünscht sich, dass die PA nach einem israelischen Rückzug die politische Souveränität über Gaza übernimmt, ein anderer, dass die Hamas die Souveränität über Gaza behält, während ein dritter, vielleicht grösserer Teil der Bevölkerung fordert, dass weder Hamas noch Fatah die Kontrolle über Gaza bekommen. Es müsse den Gazanern selbst überlassen bleiben, nach der Katastrophe des Krieges eine politische Ordnung zu schaffen, ohne Hamas, ohne Fatah und ohne PA.
Doch die Gaza-Autonomisten haben einen schweren Stand. Die abgestufte Machtordnung der Moskau-Allianz (Russland / Iran / Achse des Widerstands / Hamas) bedeutet, dass Gaza und das Westjordanland in ihrer Einflusssphäre bleiben und ihren strategischen Interessen ausgeliefert sind. Dies bedeutet, dass sich die Hamas durch einen formalen Anschluss an die PLO die Macht in Gaza sichern kann, ohne befürchten zu müssen, dass die Fatah die politischen und gesellschaftlichen Bruchlinien zur Hamas wieder aufleben lässt.
Schleichende Machtübernahme
Dies zeigt, dass die von Moskau und Peking lancierten Initiativen zur «nationalen Versöhnung» der auf Linie gebrachten Hamas klar zum Vorteil gereichten. Verlierer waren die PLO und mit ihr die Fatah. Sollte Abbas nun tatsächlich eine Reise nach Gaza antreten, um Hoheitsrechte der Autonomiebehörde in der Trümmerlandschaft Gaza zu reklamieren, so kann dies auch als Versuch gelesen werden, eine schleichende Machtübernahme der Hamas über die Strukturen und Institutionen der Autonomiebehörde zu verhindern.
Hierfür gibt es nach Einschätzung palästinensischer Beobachter bereits deutliche Anzeichen. So rekrutiert die Hamas neue Kämpfer im Westjordanland, vor allem im Gouvernorat Jenin im Norden, dem einzigen Gouvernorat in den Autonomiegebieten, das mehrheitlich der PA untersteht. Es wird vermutet, dass sich die Hamas für den Fall eines endgültigen Zusammenbruchs ihrer militärischen Macht in Gaza in Jenin und den angrenzenden Gouvernoraten eine alternative Machtbasis schaffen und dort bestehende Institutionen der PA übernehmen will. Jenin, so wird befürchtet, könnte so zu einem kleinen Hamasstan werden. Pessimisten sehen sogar die Möglichkeit, dass die Hamas von dieser Basis aus den gesamten Macht- und Herrschaftsapparat der Autonomiebehörde aufrollen könnte.
Hamasisierung
Die Fatah hat also gute Gründe, eine schleichende Hamasisierung der Autonomiebehörde zu befürchten. Offensichtlich sind aber Teile der Fatah, die faktisch die PA trägt, nicht gewillt, dies widerstandslos hinzunehmen. Bei einem israelischen Drohnenangriff am 17. August wurden in Jenin vier Hamas-Mitglieder in einem fahrenden Auto getötet. Unter ihnen waren zwei Kommandeure der lokalen al-Qassam-Einheiten. Über den weiteren Verlauf des Geschehens gibt es sehr unterschiedliche Berichte. Nach einer Version sollen bewaffnete Hamas-Leute versucht haben, im Auto gelagerte Waffen zu beschlagnahmen. Daraufhin hätten Fatah-Polizisten, die sich im benachbarten Verwaltungsgebäude befanden, das Feuer auf die Hamas-Leute eröffnet. Es folgte ein längerer Schusswechsel mit unklarem Ausgang. Später hiess es, die Fatah habe das Feuer auf die abfliegende Drohne eröffnet. Anderen Berichten zufolge waren es Fatah-Leute, die die Waffen der Getöteten einsammeln wollten und daraufhin von Hamas-Kämpfern beschossen wurden. Unabhängig davon, wie sich der Vorfall tatsächlich zugetragen hat, zeigt er, dass die lokalen Fatah-Gruppen einer direkten Übernahme der Machtstrukturen durch die Hamas nicht tatenlos zusehen werden, selbst wenn auf der politischen Bühne über eine Integration der Hamas in die PLO verhandelt werden sollte.
Die nun von der Hamas angekündigte Wiederaufnahme von Selbstmordattentaten in Israel bringt die Fatah weiter in die Defensive. Die Hamas behauptet, dass solche Selbstmordattentate Israel so unter Druck setzen würden, dass die Regierung einem unbefristeten Waffenstillstand und einem Truppenabzug aus Gaza zustimmen würde. Der erste gescheiterte Versuch in Tel Aviv, bei dem sich der angeblich aus Nablus stammende Attentäter vorzeitig in die Luft sprengte, macht deutlich, dass die Hamas auch die PLO/Fatah unter Zugzwang setzen will.
Ausgang offen
Der Ausgang dieses innerpalästinensischen Machtkampfes ist völlig offen. Immerhin kann die Hamas für sich in Anspruch nehmen, von Moskau, Peking und Teheran so etwas wie Garantien erhalten zu haben, die ihr die Möglichkeit geben, politische und soziale Souveränitätsräume in den palästinensischen Gebieten zu erhalten. Und – so absurd es klingt – die Hamas profitiert von der Weigerung der israelischen Regierung, der Bevölkerung in Gaza und im Westjordanland Spielräume für eine eigene politische Vision zu eröffnen. Stattdessen lässt die Regierung Netanjahu es zu, dass israelische Rechtsextremisten den Krieg zu einem religiös-ideologischen Krieg gegen die Palästinenser umdeuten und giesst Öl ins Feuer, indem sie einen Parlamentsbeschluss herbeiführt, demzufolge eine israelische Regierung niemals einen palästinensischen Staat zulassen wird. Das stärkt die Hamas, die in Gaza mit martialischen Durchhalteparolen die Bevölkerung an sich zu binden versucht.
Die Autonomiebehörde hat sich mit ihrer Loyalitätsverpflichtung gegenüber Moskau selbst ins Abseits manövriert und jeder eigenständigen Handlungsfähigkeit beraubt. Hätte sie unmittelbar nach dem 7. Oktober deutlich gemacht, dass sie den Terror der Hamas als Hochverrat ansieht und deshalb den Sturz der Hamas mit herbeiführen will, um sie für den Terror zur Verantwortung zu ziehen, hätte dies die Autorität der Autonomiebehörde gestärkt und so im Rahmen einer internationalen Mission ihre Souveränität über Gaza wiederhergestellt. Dies hätte möglicherweise den Schritt in Richtung einer neuen Zweistaatenlösung eröffnet.