"Es gibt keine Krise in der Türkei" sagt die türkische Regierung, "vielmehr handelt es sich um eine Normalisierung" - obwohl natürlich der Rücktritt des Generalstabschefs und aller drei Oberkommandanten der türkischen Streitkräfte, Landarmee, Luftwaffe und Marine, überall die Alarmglocken läuten liess.
Doch die Regierung scheint Recht zu behalten. Es gab keinen Staatstreich - jedenfalls nicht unmittelbar. Der Rücktritt der drei Oberkommandanten war nur eine Geste; sie waren ohnehin ans Ende ihrer Karriere gelangt und hätten sich in wenigen Tagen auch ohne Rücktritt in die Pension begeben.
Ein erbitterter Generalstabschef
Doch Generalstabschef, General Isik Kosaner, hätte noch zwei Jahre zu dienen gehabt. In einer äusserst scharfen Abschiedsbotschaft an die Armee machte der Generalstabschef die Gründe seiner Entscheidung sehr klar. Er erklärte, 173 aktive und 77 pensionierte Offiziere sässen in den Gefängnissen, ohne bisher verurteilt worden zu sein. Dies sei unvereinbar mit "den universalen Rechtsgrundsätzen". Die Regierung hätte eine Lösung des Problems finden müssen.
"14 Generäle und Admiräle", sagte er,"und 58 andere Offiziere verloren nicht nur ihre Freiheit sondern auch ihr Recht auf Bewertung, um befördert zu werden. Sie wurden bestraft, bevor sie noch schuldig befunden waren."
Er beklagte sich, die Armee werde in der Öffentlichkeit als eine "Verbrecherbande behandelt". Dies lasse ihm keine Möglichkeit, seine Pflicht zu tun und sein Personal gegen Schmierkampagnen in Schutz zu nehmen. Die Regierung weigere sich, auf die Aufrufe aus der Armee einzugehen.
Ein Spitzenkommandant auf Seiten der Regierung
Der General, der bis jetzt die Gendarmerie kommandierte, Necdet Özel, ist anders als seine Kollegen nicht zurückgetreten. Auch seine Position zählt als eines der Spitzenkommandos der Streitkräfte. Dass er sich nicht mit seinen Kollegen solidarisierte, gab der Regierung einen wichtigen Ansatzpunkt, um die Krise zu bewältigen. Er traf sich mit Erdogan, schon bevor die Rücktritte gemeldet wurden, und er ist unmittelbar darauf zum Oberkommandanten der Landarmee an Stelle seines zurückgetretenen Kollegen ernannt worden. Noch vor Montag früh soll er von Präsident Gül und Ministerpräsident Erdogan zum neuen Generalstabschef befördert werden.
Der Generalstabschef nimmt die höchste Position unter den türkischen Generälen ein. Schon für Montag ist die entscheidende Sitzung des Obersten Militärrates geplant, an welcher der Generalstabschef nach den bestehenden Regeln den beiden politischen Oberhäuptern des Staates die Vorschläge zu unterbreiten hat, welche Offiziere er zur Beförderung auf die Spitzenkommandos der Armee zu ernennen gedenkt. Die beiden zivilen Würdenträger haben sie dann zu bestätigen oder abzulehnen. In der Vergangenheit, vor Erdogan, war ihre Zustimmung stets nur eine Formsache. Hätten sie sie verweigert, hätte die Armee Druckmassnahmen angewandt, die im Notfall bis zu einem Putsch hätten gehen können.
Kein Kompromiss
Wenn General Özel ebenfalls zurückgetreten wäre, wäre eine Vakanz auf allen Spitzenstellen der Armee entstanden, und die Regierung hätte die bestehenden Beförderungsregeln nicht einhalten können. Vermutlich war dies der Plan der zurückgetretenen Generäle gewesen.
Alle Türken wissen, der Generalstabschef nahm in seiner Abschiedserklärung Bezug auf die Monsterprozesse, die gegen Armeeangehörige seit Jahren und Monaten laufen. Kurz vor seinem Protestschritt waren 22 weitere Offiziere unter Anklage gestellt und verhaftet worden, unter denen sich offenbar solche befanden, deren Beförderung dem Generalstabschef am Herzen lag. Es hatte Gespräche zwischen ihm und Präsident Gül sowie Ministerpräsident Erdogan über die letzten Verhaftungen gegeben. Man hatte versucht, einen Kompromiss zu erreichen. Doch dieser war nicht zustande gekommen.
Der Prozess Ergenekon
Die Prozesse drehen sich um angebliche Versuche und Pläne der Militärs und der militärischen Geheimdienste, das zivile Regime zu erschüttern und möglicherweise zu Fall zu bringen. Der ältere, aber immer noch unabgeschlossene Grossprozess läuft schon seit 2007 unter dem Namen Ergenekon.
Die Namen der Prozesse beziehen sich stets auf die Decknamen, unter denen die mutmasslichen Verschwörungen durchgeführt wurden. Der Ergenekon Prozess begann mit der Aufdeckung eines Untergrund-Waffenlagers in einem Aussenquartier von Istanbul und dehnte sich sich später auf ein weites Spektrum von vermutlichen Verschwörungen und politischen Morden aus. Sie werden dem Milieu der Geheimdienste und Offiziere, welche sie über Jahre hinweg eingesetzt und gelenkt haben sollen, angelastet.
Umsturzpläne oder "Übungen"?
Der zweite Prozess "Vorschlaghammer" genannt, der später dazu kam, bezieht sich auf ausführliche Pläne der Armee, Hunderte von Papieren, die zu grossen Teilen den Zeitungen zugespielt wurden, bevor der Prozess begann. Die Pläne existierten in der Tat. Doch die These der Parteigänger der Armee lautet, es habe sich nur um eine theoretische Übung gehandelt. Sie enthalten Szenarien im Zusammenhang mit den immer leicht zu erhitzenden Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei, um eine Spannungslage zu schaffen, in der die Streitkräfte die Macht übernehmen könnten. Das soll durch Anschläge auf Moscheen, die dann "dem Landesfeind" anzulasten wären etc., erreicht werden.
Die Prozesse spielen sich vor einem politischen Hintergrund ab, der durch die Konfrontation der Armeespitzen mit der Regierung gegeben ist. Im März 2008 hatte die Armee mit Hilfe der Gerichte versucht, die Regierung Erbakans und seine AK Partei als illegal zu erklären, und es wäre ihr beinahe gelungen. Der Ergenekon Prozess wird von den Gegnern des Regimes als Revanche der Regierung angesehen.
Die Gerichte im Umbau
Die lange Dauer der Verfahren hängt neben der Komplexität der Sachverhalte, der Schwierigkeit der Beweislage und wohl auch damit zusammen, dass die türkische Gerichtsbarkeit sich im Umbau befindet. Die hohen Richter neigten in der Vergangenheit der Armee zu. Sie sahen sich selbst und die Offiziere als die Beauftragten an, das laizistische Erbe Atatürks gegen die islamisch ausgerichtete AK Partei Erdogans zu verteidigen. Doch seit dem Verfassungsreferendum vom September 2010, das sich in wichtigen Teilen um die Neuorganisation und Ent-Ideologisierung des Gerichtswesens drehte, wird von den Behörden schrittweise ein personeller Umbau vorgenommen, so dass die Gerichte heute nur noch teilweise als Bollwerk der Atatürk-Ideologie gelten können.
Man muss davon ausgehen, dass sich in Verbindung mit den Prozessen gegen Armeeoffiziere ein politisches Ringen unter den Richtern innerhalb der Kulissen der Gerichtsbarkeit abspielt, obwohl offiziell die Richter eine neutrale Stellung einnehmen.
Vor der entscheidenden Nachfolgefrage
Die türkischen Zeitungen sind schon voll von Spekulationen darüber, welche Generäle in der bevorstehenden Armee- und Regierungssitzung neu an die Spitzen der Streitkräfte gestellt werden könnten. Man spekuliert darüber, welche von ihnen als durch die Prozesse belastet und welche der Regierung als zuverlässig gelten könnten.
Die allgemeine Erwartung ist, dass die kritische Sitzung glatt über die Bühne gehen wird. Dies ist von Kommentaren begleitet, die davon sprechen, dass der Übergang zu einem voll demokratischen Regime, in dem die gewählten Behörden letztlich über die Armee bestimmen, nicht umgekehrt, nun gewährleistet sei. Dies habe als ein Wendepunkt in der türkischen Geschichte zu gelten.
Doch lassen sich auch Andeutungen finden, die darauf hinweisen, dass die neu zu ernennenden Führungsspitzen der Armee keine leichte Aufgabe im Umgang mit ihren Untergebenen erwartet. Dies gilt in erster Linie für den Gendarmeriechef, General Özel, der nun von einer Blitzbeförderung auf den ersten Rang der Armee profitiert, weil er sich nicht an die Solidarität mit seinen Kameraden hielt, sondern auf die Seite der Regierung einschwenkte. Möglicherweise wird er es nicht leicht haben, seine Autorität in jenen Teilen der Armee durchzusetzen, die immer noch an der Lehre festhalten, die türkische Armee habe die Pflicht, zu gewährleisten, dass das Land nicht von der Linie Atatürks abweiche.