Für manche Sinophilen ist es ein Zeichen westlicher Voreingenommenheit, wenn China seiner mangelnden Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wegen angeprangert wird. Kritik an afrikanischen Klientel-Staaten gilt, wenn sie aus dem Westen kommt, schnell als Besserwisserei und Heuchelei. Arabische Wortführer bekommen oft Recht, wenn sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 als einseitig westlich ablehnen und eine eigene Erklärung propagieren, die auf arabischer Kultur beruht.
Menschenrechte als «westliches Gedankengut» oder schlicht als Ausdruck westlicher Anmassung zu relativieren, ist gerade im Westen recht verbreitet. Und zwar geschieht dies oft in Kreisen, die in bester Absicht beim Umgang mit anderen Kulturen alles richtig machen wollen. Sie machen sich chinesische, afrikanische oder arabische Vorhaltungen zu eigen, weil sie um historisches Unrecht des Westens gegenüber anderen Kulturen wissen – Stichworte: Kolonialismus, Rassismus, Neokolonialismus. Auch geht es ihnen dabei um Respekt vor der Andersartigkeit der Kritisierten. Ein weiterer Grund westlicher Zurückhaltung ist der mittlerweile veränderte Diskurs in Wissenschaft, Kulturbetrieb, Zivilgesellschaft und Medien. Nichtwestliche Stimmen finden zunehmend Gehör und erlangen mitunter Diskurshoheit.
Die vielfache Zurückweisung oder zumindest Relativierung der Idee allgemeiner Menschenrechte oder auch nur die Vorsicht bei diesem Thema sind aus historischen Gründen nur zu begreiflich. Trotzdem ist solche Leisetreterei verfehlt. Der indisch-amerikanische Harvard-Ökonom, Philosoph und Nobelpreisträger Amartya Sen wird nicht müde zu betonen: Menschenrechte sind nicht westlich! Sie sind für jede Zivilisation zu jeder Zeit ein notwendiger Stachel im Fleisch. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ausgerufen aus der Erfahrung des grauenhaften Kulturbruchs im Westen. Mit der Erklärung von 1948 haben die Unterzeichnerstaaten die Idee der Menschenrechte für sich selbst und die Weltgemeinschaft als notwendiges kritisches Korrektiv anerkannt.
Natürlich ist Papier geduldig, und hehre Grundsätze sind leicht zu unterlaufen. Trotzdem ist es besser, diese Erklärung zu haben, als sie nicht zu haben. Dass es über die Formulierung der Menschenrechte im Einzelnen Diskussionen gibt, liegt in der Natur eines weltweiten, sich entwickelnden Abkommens. Das Wichtigste daran ist ohnehin nicht die Ausgestaltung im Detail, sondern der Grundgedanke. Dieser bleibt sich stets gleich.
Die politische Philosophin Hannah Arendt hat 1951 in «The Origins of Totalitarism» den innersten Kern der Menschenrechte mit der Formel «Das Recht, Rechte zu haben» identifiziert. Als aus NS-Deutschland geflohene staatenlose Jüdin hatte sie erlebt, was es bedeutet, keine Rechte zu haben. Ihr geschärfter Blick für das fundamentale Recht auf Rechte ist auch heute ein guter Massstab, um Menschenrechtsfragen zu beurteilen. Völlig negiert ist dieses Grundrecht da, wo Staaten im Zerfall sind und bewaffnete Banden oder Milizen die Macht an sich reissen. Aber auch in Staaten mit gelenkter, von Machthabern abhängiger Justiz – China ist das Schwergewicht unter ihnen – ist das Recht auf Rechte durch schrankenlose Staatsmacht und willfährige Justiz korrumpiert.
Die Schweiz, die sich gern als Musterland sieht, hat sich in jüngster Zeit diesbezüglich mit üblen Altlasten auseinandersetzen müssen. Bis 1981 war die oft skandalös gehandhabte «Administrative Versorgung» unangepasster Personen Usus. Und noch bis in die 1960er-Jahre herrschte ein unmenschlicher Umgang mit «Verdingkindern». Wie inzwischen angenommen wird, zählten diese seit Beginn des 19. Jahrhunderts vermutlich Hunderttausende. Erst nach langen Widerständen wurden in den letzten 15 Jahren diese Dinge in der Schweiz aufgearbeitet.
Die Empfindlichkeit für jegliche Verletzung des Rechts auf Rechte ist Voraussetzung für Fortschritte bei den Menschenrechten. Keine Gesellschaft, keine Kultur ist gefeit gegen Blindheit für Verstösse. Sie kommen, das lehrt auch die eigene jüngste Geschichte, überall vor. Für das Schweigen angesichts von Unterdrückung des elementaren, allen Menschen zustehenden Rechts auf Rechte gibt es niemals und in keinem Fall «gute Gründe».