Auch Feinde der katholischen Kirche hätten sich nicht die Abgründe vorstellen können, die seit einigen Jahren nach und nach ausgeleuchtet werden. Die jüngsten Urteile in Australien und Pennsylvania, die allzu spät zugegebenen Skandale in Chile markieren noch längst nicht das Ende dieser Odyssee des Horrors.
Jetzt spricht der Vatikan von Reformen. Fehlverhalten solle schneller erkannt und geahndet werden. Laien sollen mehr Mitsprache erhalten. Überhaupt wird mehr „Sensibilität“ eingefordert. Das ist nötig, aber alle Reformen dieser Art gehen am eigentlichen Problem vorbei. Denn eine entscheidende Frage wird nicht gestellt:
Wie ist es möglich, dass eine nicht unerhebliche Anzahl von Männern, die sich den edelsten spirituellen Zielen verschrieben haben, offenbar willenlos sexuellen Fantasien und Obsessionen erliegen? Irgendetwas stimmt da nicht.
Man muss und kann so fragen, denn Sozialpsychologen haben schon vor Jahrzehnten schonungslos die tieferen Gründe für die moralischen Abstürze unserer Kulturen untersucht. So hat Stanley Milgram zum Beispiel nachgewiesen, dass ganz normale Bürger problemlos Mordbefehle ausführen, wenn sie dazu von angeblichen wissenschaftlichen Autoritäten verleitet werden. Später hat Philip Zimbardo in Experimenten gezeigt, wie stark Menschen unter Gruppendruck ihren moralischen Kompass verlieren. Unsere Kultur hat eine blank geputzte Oberfläche, darunter aber lauern die Teufel. Zimbardo spricht vom „Luzifer-Effekt“.
Dieser schmerzhafte Weg der Selbsterkenntnis steht der katholischen Kirche, und nicht nur ihr, noch bevor. Sie muss die Frage beantworten, warum für manche Geistliche das spirituelle Leben und Wirken Leerstellen erzeugt, die durch sexuelle Obsessionen ausgefüllt werden. Oder entscheiden sich auffällig häufig auch solche Personen für diesen Weg, die sexuell labil sind? Wir wissen es nicht. Auch um ihrer selbst willen muss die Kirche die Frage beantworten, welche Einflüsse oder Schwächen bei Teilen ihrer Geistlichkeit dazu führen, dass diese von allen guten Geistern verlassen werden.